Das Ringen um den ‚nationalen Besitzstand’

Der Aufschwung des Deutschnationalismus in den 1890er Jahren bis zum Untergang der Habsburgermonarchie

In den 1890er Jahren kam es zu einem immer stärkeren Aufflammen des Nationalitätenkampfes und damit auch des Deutschnationalismus. Im Zuge des Cillier Schulstreits von 1895 sowie der von Ministerpräsident Badeni 1897 erlassenen Sprachenverordnung für Böhmen und Mähren gewann das nationale Lager zunehmend an Schlagkraft.


 

Am 7. Juni 1896 kam es unter Otto Steinwender zur Gründung der Deutschen Volkspartei. Diese verfolgte eine staatserhaltende Politik und war immer wieder zu Konzessionen gegenüber der Krone bereit. Damit unterstützte sie die Interessen des Deutschen Reiches wirkungsvoller, als die Anhänger Schönerers es mit ihrem Radikalismus vermochten.

Aufgrund der Wahlreform von 1896 und der Erweiterung des Wahlrechts auf alle männlichen Staatsbürger mit einem Mindestalter von 24 Jahren konnten die Deutschnationalen bei den Reichsratswahlen 1897 erheblich an Mandaten gewinnen. Auch Georg von Schönerer zog wieder ins Parlament ein. Die Deutschnationalen profitierten vom Fehlen einer österreichischen Staats- und Reichsidee. Mit propagandistischem Geschick gelang es ihnen, Sympathien für das Deutsche Reich, für Bismarck und die Hohenzollern zu wecken und den Hass auf die Juden und die slawischen Nationen zu schüren. Sie rekrutierten ihre entschlossensten Anhänger in den deutschen Turn- und Sportvereinen, den Gesangvereinen, den Studentenverbindungen bzw. Burschenschaften sowie den nationalen Schul- und Schutzvereinen. Ihr Antisemitismus und ihre ‚Deutschtümelei’ fanden vor allem beim städtischen Kleinbürgertum und den Bewohnern der Sprachgrenzen Zuspruch, die sich durch ihre slawischen Nachbarn bedroht fühlten.

Die Gegensätze zwischen den Alldeutschen Schönerers und den anderen deutschnationalen Gruppierungen verschärften sich zusehends. Die Schönerianer verfolgten eine österreichfeindliche Politik. Ihre radikale Agitation gegen den Katholizismus, die in der „Los-von-Rom-Bewegung“ zum Ausdruck kam, wurde von den anderen Parteien des nationalen Lagers nicht unterstützt. Es kam schließlich zur Spaltung der Partei Schönerers und zur Gründung der Freialldeutschen, die später unter der Bezeichnung Deutschradikale auftraten. Mit Karl Hermann Wolf stand ein Mann an der Parteispitze, der ähnlich wie Schönerer ein fähiger Agitator war, jedoch eine realistische bzw. staatstreue Politik verfolgte.

Mit der Gründung der Deutschen Arbeiterpartei 1904 und der Etablierung der Deutschen Agrarpartei 1905 kam es zur weiteren Differenzierung innerhalb des nationalen Lagers.

Die ersten nach dem allgemeinen, gleichen, direkten und geheimen Männerwahlrecht durchgeführten Reichsratswahlen von 1907 brachten eine Schwächung der Deutschnationalen.

Infolge der Niederlage wurde der Wunsch nach einem deutschfreiheitlichen Gesamtverband laut, der schließlich 1910 unter der Bezeichnung Deutscher Nationalverband gegründet wurde. Es handelte sich um eine Vereinigung der Deutschen Volkspartei mit der Deutschen Fortschrittspartei, den Deutschen Agrariern und Deutschradikalen. Sie alle verfolgten eine nationale Politik auf österreichischer Grundlage und unterstützten die Aufrechterhaltung der Monarchie. Bei den Reichsratswahlen im Jahr 1911 konnte ein Großteil der verlorenen Stimmen wieder zurückgewonnen werden, sodass der Deutsche Nationalverband mit 104 Abgeordneten (20,2 %) die stimmenstärkste Fraktion bildete – die Christlichsozialen erlangten hingegen nur 74 (14,3 %) und die Sozialdemokraten 44 Mandatssitze (8,5 %).

Zu Kriegsbeginn stand der Deutsche Nationalverband weitgehend hinter dem Vorgehen der Regierung und ihrer Entscheidung für den Krieg. Die Deutschnationalen forderten nun eine verfassungsmäßige Verankerung des Bündnisses mit dem Deutschen Reich sowie die Schaffung eines gemeinsamen Zollgebiets. Im Sinne althergebrachter deutschnationaler Ziele sollte Österreich weiterhin vor einer slawischen Majorisierung geschützt und die deutsche Sprache die alleinige Amts- und Verwaltungssprache bilden. Während die Habsburgermonarchie infolge des Nationalitätenproblems allmählich zerfiel, hofften die nationalen Kreise auf einen Anschluss der deutschsprachigen Gebiete an das Deutsche Reich.

Bibliografie 

Berchtold, Klaus: Österreichische Parteiprogramme 1868-1966, Wien 1967

Ehrenpreis, Petronilla: Kriegs- und Friedensziele im Diskurs. Regierung und deutschsprachige Öffentlichkeit Österreich-Ungarns während des Ersten Weltkriegs, Innsbruck/Wien/Bozen 2005

Fuchs, Albert: Geistige Strömungen in Österreich 1867-1918, Wien 1984

Kriechbaumer, Robert: Die großen Erzählungen der Politik. Politische Kultur und Parteien in Österreich von der Jahrhundertwende bis 1945, Wien/Köln/Weimar 2001

Rumpler, Helmut: Österreichische Geschichte 1804-1914. Eine Chance für Mitteleuropa. Bürgerliche Emanzipation und Staatsverfall in der Habsburgermonarchie, Wien 1997

Urbanitsch, Peter: Die Nationalisierung der Massen, in: Das Zeitalter Kaiser Franz Josephs. 2. Teil 1880-1916. Glanz und Elend (Ausstellungskatalog der Niederösterreichischen Landesausstellung im Schloss Grafenegg), Wien 1987, 119-125

Wandruszka, Adam: Die Habsburgermonarchie von der Gründerzeit bis zum Ersten Weltkrieg, in: Das Zeitalter Kaiser Franz Josephs. 2. Teil 1880-1916. Glanz und Elend (Ausstellungskatalog der Niederösterreichischen Landesausstellung im Schloss Grafenegg), Wien 1987, 4-19

Inhalte mit Bezug zu diesem Kapitel

Aspekt

Personen, Objekte & Ereignisse

Entwicklungen

  • Entwicklung

    Der Weg zur Nation – Nationale Programme und Positionen

    Das ‚Werden der Nationen’ war in Europa Teil des Emanzipationsprozesses breiterer Bevölkerungsschichten aus feudaler Bevormundung. Gemäß den Idealen der Aufklärung und der Französischen Revolution sollte die Nation – nun verstanden als Gemeinschaft freier Bürger – anstelle feudaler Potentaten die Rolle des eigentlichen Souveräns übernehmen.

    Die Idee der Nation wurde als Schicksalsgemeinschaft definiert, die durch gemeinsame Abstammung, Kultur und Sprache verbunden war. Zur Stärkung des Gruppengefühls wurde eine verbindliche Sicht der Geschichte der eigenen Nation geschaffen.

  • Entwicklung

    Antisemitismus

    Um die Jahrhundertwende vom 19. zum 20. Jahrhundert wurde der Antisemitismus zur politischen Bewegung, die den Judenhass zum ideologischen Programm und zur Richtschnur für politische Aktionen erhob. Dahinter verbarg sich eine Ideologie, die Juden und Jüdinnen als „die Anderen“ stigmatisierte und als eine die Gesellschaft bedrohende Gefahr inszenierte. Während des Ersten Weltkrieges führte der „innere Burgfrieden“ zunächst zu einem Abflauen der antisemitischen Hetze, doch der ungünstige Kriegsverlauf förderte die antisemitische Ausschlusspolitik.