Die Anfänge der Christlichsozialen Partei sind einerseits in der katholischen Sozialreformbewegung eines Freiherrn Karl von Vogelsang zu suchen, andererseits in der Wiener Handwerkerbewegung, welche darum bemüht war, die Konkurrenzfähigkeit des Kleingewerbes gegenüber der Industrie zu sichern.
Karl von Vogelsang beschäftigte sich auf der Grundlage christlicher Ideen mit der Lösung der ‚sozialen Frage’ in der Habsburgermonarchie und sah diese in der Schaffung einer berufsständischen Ordnung gegeben. Gefordert wurden ein protektionistisches Wirtschaftssystem, gerechte Arbeiterlöhne sowie das allgemeine Wahlrecht. Die Macht des Kapitalismus sollte unterwandert, die Klassengegensätze ausgeglichen und durch genossenschaftliche Maximen ersetzt werden. Vogelsangs Ideen fanden sowohl beim hohen Adel – beispielsweise bei Prinz Aloys Liechtenstein – sowie beim Klerus – bei Prälat Josef Scheicher und bei Franz Martin Schindler – Gehör und beeinflussten die späteren Organisatoren der christlichsozialen Bewegung – Ernest Schneider, Albert Gessmann und Karl Lueger – maßgeblich.
Obwohl Vogelsang für die Wiener Zeitung Vaterland tätig war, konnte er mit seinen sozialreformerischen Ansätzen vorerst keine Breitenwirksamkeit erlangen.
Erst als Karl Lueger zur christlichsozialen Bewegung stieß, entwickelte sich diese zur Volksbewegung und modernen Massenpartei. Lueger, der aus dem Bürgertum stammte und die Advokatenlaufbahn einschlug, war ein begabter Rhetoriker, Populist und leidenschaftlicher Vorstadtpolitiker. Er hatte seine politische Karriere bei den Liberalen begonnen, wandte sich jedoch bald vom Liberalismus ab. Als einer ihrer Hauptgegner avancierte er schließlich zum Vertreter des Handwerks und Kleingewerbes, das aufgrund der Wirtschaftskrise und der beginnenden industriellen Massenproduktion in existenzielle Not geriet. Lueger knüpfte Kontakte zum Österreichischen Reformverein und näherte sich dessen antisemitischer Ideologie an. Schließlich trat er mit Vogelsang und dem 1887 gegründeten Christlichsozialen Verein in Verbindung.
Die antiliberalen und antisemitischen Strömungen schlossen sich Ende der 1880er Jahre zum Bündnis der Vereinigten Christen zusammen. Neben den gewerblichen Reformern und Christlichsozialen versammelten sich darin auch Mitglieder der demokratischen, katholisch-konservativen und deutschnationalen Bewegungen. Nach dem Ausscheiden Georg von Schönerers konnte sich Karl Lueger als ihr Führer etablieren. Die Namensgebung des Bündnisses bezog sich jedoch nicht auf eine gemeinsame christliche Ideologie. Sie diente im Sinne der jahrhundertlang tradierten Dichotomie christlich/jüdisch vielmehr als eine Sammelbezeichnung für alle Antisemiten. Die Vereinigung wurde aufgrund ihrer inhomogenen Zusammensetzung im Volksmund auch als „Wurstkesselpartei“ bezeichnet.
Neben dem Schutz der Bauern und Gewerbetreibenden forderten die Vereinigten Christen eine Steuerreform und die Errichtung eines Genossenschaftswesens. Weiters verlangten sie die Exklusion der Juden vom Grundbesitz, vom Stand der Beamten, der Richter, Offiziere, Advokaten, Ärzte und Lebensmittelhändler sowie deren Ausschluss vom öffentlichen Unterricht. Das Parteiprogramm der Christlichsozialen fasste zunächst die Anliegen der antiliberalen Wiener Gewerbetreibenden und Beamten zusammen und kann weder als christlich noch als sozial bezeichnet werden. Allmählich kam es jedoch zu einer Verchristlichung der Bewegung.
Ihre Führer kamen wöchentlich im Restaurant Zur goldenen Ente zusammen, um bei den so genannten „Entenabenden“ über die katholische Sozialreformbewegung bzw. die Lösung der ‚sozialen Frage’ zu debattieren. Diese „Entenabende“ waren, so formulierte es Klaus Berchtold, die eigentliche „Parteischule der Christlichsozialen“.
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Zitate:
„Parteischule der Christlichsozialen“: Berchtold, Klaus: Österreichische Parteiprogramme 1868-1966, Wien 1967, 50
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Kapitel
- Voraussetzungen und Anfänge politischer Partizipation
- Auf dem Weg zur politischen Mitbestimmung
- Liberalismus und Konservatismus
- Aufstieg und Niedergang des Liberalismus
- Arbeiter vereinigt euch!
- Partei der Massen
- Zwischen Burgfriedenspolitik und linkem Radikalismus
- Karl Lueger und die „Wurstkesselpartei“
- „Der Koloss von Wien“
- Aufstieg und Niedergang
- Bekenntnis zur Monarchie
- „Großdeutsch“, „kleindeutsch“ oder „deutschnational“?
- „Deutsch und treu, so ganz und echt“
- „Preußenseuchlerei“ oder Habsburgerliebe
- Das Ringen um den ‚nationalen Besitzstand’