„Der Koloss von Wien“

Die Christlichsoziale Partei von den Reichsratswahlen 1891 bis zur Ernennung Karl Luegers zum Wiener Bürgermeister

Bei den Reichsratswahlen 1891 gelang es den Christlichsozialen, sich gegen die Klerikal-Konservativen zu behaupten und als autonome politische Bewegung aufzutreten.

Die Christlichsozialen zogen mit 13 Abgeordneten (3,7 %) in den Reichsrat ein und gründeten den Parlamentsklub Freie Vereinigung für wirtschaftliche Reform auf christlicher Grundlage. Obwohl Karl Lueger bereits im Juli 1891 von einer Christlichsozialen Partei sprach, stellte diese bislang ein loses Bündel heterogener Kräfte dar, die erst zu einer einheitlichen Partei zusammengefügt werden mussten.

Der Antisemitismus spielte für die Entstehung der christlichsozialen Bewegung eine bedeutende Rolle und trug wesentlich zur Integration und Mobilisierung der eigenen katholischen Klientel bei. Vor allem das Mittel- und Kleinbürgertum, die Handwerker und Gewerbetreibenden, waren für den Antisemitismus Luegers besonders empfänglich. Die Schuld für die existenzielle Notlage, in der sich der Mittelstand infolge der übermächtigen Konkurrenz der Industrie befand, wurde dem Kapitalismus und dem jüdischen Liberalismus zugeschrieben.

Der christlichsozialen Bewegung gelang es schließlich, ihren Einflussbereich vom Mittel- und Kleinbürgertum auch auf den niederen Klerus und die katholische Landbevölkerung auszudehnen. Am 21. September 1892 gründete Leopold Kunschak den Christlichsozialen Arbeiterverein für Niederösterreich, der sich der Anliegen der christlichen Arbeiter annehmen sollte. Zudem gelangten ab den 1890er Jahren immer mehr ‚besitzende Schichten’ zur Christlichsozialen Partei.

Ihr Antisemitismus rief bei den Konservativen sowie der hohen Geistlichkeit große Besorgnis hervor. In den 1890er Jahren kam es seitens des Episkopats zur zweimaligen Anklage. Es beschuldigte die Christlichsozialen vor dem Papst des Antisemitismus, der Aufhetzung des Volkes sowie des Ungehorsams gegenüber der bischöflichen Autorität. Die Auseinandersetzung endete mit einem Sieg der Christlichsozialen. Papst Leo XIII genehmigte in seiner Sozialenzyklika „Rerum novarum“ ihr Programm und sprach Karl Lueger seinen Segen aus.

Auch seitens des Hofes bestand Misstrauen gegenüber den Christlichsozialen, weshalb sich der Kaiser anfänglich weigerte, den zum Bürgermeister von Wien gewählten Lueger in seinem Amt zu bestätigen. Die Wahlen zum Wiener Gemeinderat 1895 bescherten den Vereinigten Christen immense Erfolge und beendeten die liberale Herrschaft im Wiener Rathaus. Lueger wurde zum Bürgermeister gewählt, jedoch erst zwei Jahre später vom Kaiser im Amt bestätigt.

Trotz dieser Erfolge blieb der Einflussbereich der Christlichsozialen auf Wien und das angrenzende Niederösterreich beschränkt. Bei den Reichsratswahlen von 1897 konnten die Christlichsozialen hier ihre Stärke bestätigen und in die Provinzstädte bzw. die Alpenländer vordringen.

Als Parteiführer und hervorragender Demagoge war Lueger maßgeblich am Erfolg der Christlichsozialen und an ihrem Aufstieg zur Massenpartei beteiligt. Jacques Hannak, ein Gegner der christlichsozialen Weltanschauung, formulierte dies treffsicher: „Nicht den Sittensprüchlein und frommen Wünschen der Soziallehren eines Vogelsang, nicht dem Pflästerchen der klerikal-konservativen Bettelsuppen und der Sozialpolitik eines Prinzen Aloys Liechtenstein, nicht dem rabiaten Lärm eines Ernst Schneider, nicht den päpstlichen Enzykliken eines Leo XIII.“ sei der Erfolg der Christlichsozialen zu verdanken, „sondern dem demagogischen Talent eines Mannes“ – Karl Lueger.

Bibliografie 

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Zitate: 

„Nicht den Sittensprüchlein …“: Hannak, Jacques: Im Sturm eines Jahrhunderts. Eine volkstümliche Geschichte der Sozialistischen Partei Österreichs, Wien 1952, 86, in: Rumpler, Helmut: Österreichische Geschichte 1804-1914. Eine Chance für Mitteleuropa. Bürgerliche Emanzipation und Staatsverfall in der Habsburgermonarchie, Wien 1997, 493

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Entwicklungen

  • Entwicklung

    Antisemitismus

    Um die Jahrhundertwende vom 19. zum 20. Jahrhundert wurde der Antisemitismus zur politischen Bewegung, die den Judenhass zum ideologischen Programm und zur Richtschnur für politische Aktionen erhob. Dahinter verbarg sich eine Ideologie, die Juden und Jüdinnen als „die Anderen“ stigmatisierte und als eine die Gesellschaft bedrohende Gefahr inszenierte. Während des Ersten Weltkrieges führte der „innere Burgfrieden“ zunächst zu einem Abflauen der antisemitischen Hetze, doch der ungünstige Kriegsverlauf förderte die antisemitische Ausschlusspolitik.