Die im Dezember 1867 erlassene Verfassung stellte die erste Konstitution der Monarchie dar, die nicht vom Kaiser oktroyiert, sondern vom Reichsrat verabschiedet wurde. Sie kann als die Geburtsstunde des österreichischen Parlamentarismus gesehen werden, der sich von nun an kontinuierlich weiterentwickelte.
Bei der Dezemberverfassung handelte es sich nicht um eine einheitliche Verfassungsurkunde, sondern um mehrere einzelne Gesetze. Diese enthielten einen Katalog über die Grundrechte der Staatsbürger, regelten die Gesetzgebung, bestimmten die Unabhängigkeit der Richter, erweiterten die Kontrollrechte des Parlaments und etablierten ein Reichsgericht als Vorläufer des heutigen Verfassungsgerichtshofes. Das Februarpatent von 1861 wurde in modifizierter Form in die Verfassung übernommen, weshalb Zensus- und Kurienwahlrecht weiterhin Gültigkeit besaßen. Aufgrund des vorgesehenen Notverordnungsrechts, das es der Regierung erlaubte, auch ohne den Reichsrat zu gebieten, stellte das Parlament jedoch kein reales Gegengewicht zum Kaiser dar. „Der österreichische Parlamentarismus blieb“, so Rainer Nick und Anton Pelinka, „eine Verfassungseinrichtung zweiten Ranges“ – und unterscheidet sich damit essentiell vom Parlamentarismus in einer ‚parlamentarischen bzw. konstitutionellen Monarchie’, in der die Macht des Monarchen durch eine Verfassung mehr oder weniger stark eingeschränkt wird.
1873 kam es zur ersten Modifikation des Wahlrechts für den Reichsrat, der nun direkt gewählt werden konnte und sich nicht länger aus den Abgeordneten der Landtage konstituierte. Die Reform änderte jedoch nichts an dem Zensussystem, weshalb weiterhin nur rund 6% der Bevölkerung am politischen Leben teilnehmen konnten.
Mit der Wahlrechtsreform des Jahres 1882 und der Herabsetzung der zu erbringenden Steuerleistung, des Zensus, auf 5 Gulden war ein nächster Schritt zur Erweiterung der Wählerschaft getan. Die nun wahlberechtigten „Fünf-Gulden-Männer“ stammten vorwiegend aus dem kleinbürgerlichen Milieu.
1896 wurde den vier bestehenden Kurien schließlich eine weitere hinzugefügt (allgemeine Wählerklasse), die jeden männlichen Staatsbürger ab einem Lebensalter von 24 Jahren zur Stimmenabgabe befugte. Damit wuchs zwar die Zahl der Wahlberechtigten von 1,7 Millionen auf 5,3 Millionen an, die Stimmen blieben jedoch weiterhin ungleich verteilt. Während die ersten vier Kurien 353 von insgesamt 425 Abgeordneten entsandten, wählte die fünfte Kurie bloß 72 Mandatare, von denen einer jeweils 70.000 Wahlberechtigte repräsentierte. Im Gegensatz dazu vertrat ein Abgeordneter der ersten und zweiten Kurie jeweils 64 bzw. 26 Wähler.
Aus diesem Grund forderten die neu entstandenen Großparteien, allen voran die Sozialdemokraten, eine erneute Wahlrechtsreform und die Einführung des allgemeinen, direkten, gleichen und geheimen Wahlrechts. Der Wunsch nach politischer Partizipation der Arbeiterschaft artikulierte sich besonders in den zahlreichen von der Arbeiterbewegung veranstalteten Maiaufmärschen und Massendemonstrationen. Neben den Sozialdemokraten traten auch die Christlichsozialen und andere nichtdeutsche Parteien für eine Erweiterung des Wahlrechts ein. Am 26. Jänner 1907 erfolgte schließlich die Sanktionierung des allgemeinen, gleichen, direkten und geheimen Wahlrechts für alle männlichen Staatsbürger ab einem Alter von 24 Jahren. Die noch im selben Jahr stattfindenden Reichsratswahlen bescherten den beiden Massenparteien – den Christlichsozialen und Sozialdemokraten – beachtliche Erfolge.
Hanisch, Ernst/Urbanitsch, Peter: Grundlagen und Anfänge des Vereinswesens, der Parteien und Verbände in der Habsburgermonarchie, in: Rumpler, Helmut/Urbanitsch, Peter (Hrsg.): Die Habsburgermonarchie 1848-1918. Bd. VIII. Politische Öffentlichkeit und Zivilgesellschaft. 1. Teilband. Vereine, Parteien und Interessenverbände als Träger der politischen Partizipation, Wien 2006, 15-111
Nick, Rainer/Pelinka, Anton: Parlamentarismus in Österreich, Wien/München 1984
Rumpler, Helmut: Österreichische Geschichte 1804-1914. Eine Chance für Mitteleuropa. Bürgerliche Emanzipation und Staatsverfall in der Habsburgermonarchie, Wien 1997
Urbanitsch, Peter: Die Nationalisierung der Massen, in: Das Zeitalter Kaiser Franz Josephs. 2. Teil 1880-1916. Glanz und Elend (Ausstellungskatalog der Niederösterreichischen Landesausstellung im Schloss Grafenegg), Wien 1987, 119-125
Vocelka, Karl: Geschichte Österreichs. Kultur – Gesellschaft – Politik, 3. Auflage, Graz/Wien/Köln 2002
Zitate:
„Der österreichische Parlamentarismus …“: Nick, Rainer/Pelinka, Anton: Parlamentarismus in Österreich, Wien/München 1984, 33-34
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Kapitel
- Voraussetzungen und Anfänge politischer Partizipation
- Auf dem Weg zur politischen Mitbestimmung
- Liberalismus und Konservatismus
- Aufstieg und Niedergang des Liberalismus
- Arbeiter vereinigt euch!
- Partei der Massen
- Zwischen Burgfriedenspolitik und linkem Radikalismus
- Karl Lueger und die „Wurstkesselpartei“
- „Der Koloss von Wien“
- Aufstieg und Niedergang
- Bekenntnis zur Monarchie
- „Großdeutsch“, „kleindeutsch“ oder „deutschnational“?
- „Deutsch und treu, so ganz und echt“
- „Preußenseuchlerei“ oder Habsburgerliebe
- Das Ringen um den ‚nationalen Besitzstand’