Die sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in der Habsburgermonarchie entwickelnden politisch-ideologischen Strömungen waren aufgrund der gegensätzlichen Interessen der einzelnen Gesellschaftsschichten sowie der einzelnen Nationalitäten äußerst heterogen. Dementsprechend gestaltete sich auch die Parteienlandschaft. Zwei wesentliche Entwicklungslinien ließen sich jedoch unterscheiden: Konservatismus und Liberalismus.
Die Revolution des Jahres 1848 basierte auf den Grundsätzen eines sich seit 1815 entwickelnden Liberalismus mit seiner Forderung nach der Freiheit des Individuums, die man mit der Ausarbeitung einer Verfassung und der Gewaltenteilung verwirklicht sah. Zentrum des liberalen Gedankens war der vom staatlichen Zwang befreite, emanzipierte Bürger, der sich die Teilhabe am politischen Entscheidungsprozess über Leistungen im Bereich der Bildung oder Wirtschaft verdienen sollte. Gefordert wurden die Aufhebung der Zensur, die Presse- und Redefreiheit sowie die Einschränkung der staatlichen Autorität. Das Bürgertum, Teile des Adels, die Hochfinanz und Großindustrie, die Intelligenz und ein Teil der Beamtenschaft bildeten die gesellschaftliche Basis dafür.
Die Liberalen zeichneten sich durch eine antiklerikale Haltung aus. Sie waren erbitterte Gegner des 1855 zwischen der Habsburgermonarchie und dem Papst abgeschlossenen Konkordats, das der katholischen Kirche innerhalb des Habsburgerreiches erhebliche Privilegien – etwa in der Ehegesetzgebung und im Unterrichtswesen – gewährte. Der österreichische Liberalismus trat für die Vormachtstellung der deutschen Kultur ein, weshalb er auch als Deutschliberalismus bezeichnet wurde. Damit verbunden war eine zentralistische Haltung in den staatsrechtlichen Angelegenheiten des Vielvölkerstaates.
Doch die dem Regime kritisch gegenüberstehenden Liberalen bildeten keine Einheit. Unter ihnen gab es verschiedene konkurrierende politische Richtungen. Während die Vertreter des Honoratiorenliberalismus (Bürgertum) an einem Gesellschaftsmodell festhielten, das hierarchisch strukturiert war und nicht alle Bevölkerungsschichten politisch beteiligen wollte, lehnten die Demokraten die Beschränkung des Wahlrechts auf die steuerleistenden Gruppen ab und forderten ein allgemeines Wahlrecht.
Auch die Nationalitätenfrage spaltete das liberale Lager. Unfähig eine gesamtösterreichische Bewegung zu bilden, formierten sie national differenzierte Gruppierungen. Während sich die Deutschliberalen als Zentralisten behaupteten und bestrebt waren, die politischen Kompetenzen der Regierung zu stärken, votierten die Liberalen anderer Nationen für mehr Föderalismus und eine gewisse Eigenständigkeit.
Die Vertreter konservativer, katholischer, z. T. antisemitischer und föderalistischer Maximen erwiesen sich als die vehementesten Gegner des liberalen Gedankens. Getragen wurde der Konservatismus von adeligen Großgrundbesitzern, der katholischen Kirche, den regierungstreuen Staatsbeamten und teilweise von den Bauern, welche die dynastische Legitimität zu verteidigen suchten. Die Konservativen missbilligten die liberalen Grundsätze sowie das konstitutionelle Regime und wurden zu Verfechtern des Föderalismus (wobei vor allem der tonangebende großgrundbesitzende Adel mit einer föderalistischen Gesinnung an altständische Traditionen anknüpfen wollte). Ein bedeutender Theoretiker des österreichischen Konservatismus war Karl v. Vogelsang, der zwischen 1875 und 1890 deren wichtigstes Presseorgan Vaterland leitete. Angesichts der multiethnischen Zusammensetzung des Habsburgerreiches konnte sich jedoch auch aufseiten der Konservativen keine einheitliche Bewegung etablieren.
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Vocelka, Karl: Geschichte Österreichs. Kultur – Gesellschaft – Politik, 3. Auflage, Graz/Wien/Köln 2002
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Kapitel
- Voraussetzungen und Anfänge politischer Partizipation
- Auf dem Weg zur politischen Mitbestimmung
- Liberalismus und Konservatismus
- Aufstieg und Niedergang des Liberalismus
- Arbeiter vereinigt euch!
- Partei der Massen
- Zwischen Burgfriedenspolitik und linkem Radikalismus
- Karl Lueger und die „Wurstkesselpartei“
- „Der Koloss von Wien“
- Aufstieg und Niedergang
- Bekenntnis zur Monarchie
- „Großdeutsch“, „kleindeutsch“ oder „deutschnational“?
- „Deutsch und treu, so ganz und echt“
- „Preußenseuchlerei“ oder Habsburgerliebe
- Das Ringen um den ‚nationalen Besitzstand’