Nach den im Mai 1907 erstmals abgehaltenen allgemeinen, gleichen, direkten und geheimen Reichsratswahlen zogen die Christlichsozialen als stimmenstärkste Partei in das Abgeordnetenhaus ein.
Mit 66 Mandaten (13 %) lagen sie zunächst knapp hinter den Sozialdemokraten, die 87 Sitze (17 %) erzielen konnten. Bereits im Juni darauf schlossen sich die Christlichsozialen mit der konservativen Katholischen Volkspartei zur Christlichsozialen Reichspartei zusammen und bildeten schließlich mit 96 Mandaten (19 %) die stimmenstärkste Fraktion des cisleithanischen Reichsrates.
Nach einer ersten Konsolidierungsphase avancierten sie zur staatstragenden Partei. Ihre Stoßrichtung wurde immer konservativer und ihr katholisches Profil gewann deutlich an Kontur. Sie verlagerten ihre antikapitalistische Haltung hin zum Staatskapitalismus und waren bemüht, nationale und klassenspezifische Interessen auszugleichen, um so die Monarchie zu stützen. Ihre sozialreformerischen Ansätze traten in den Hintergrund, von ihrem Engagement für die Schaffung einer ständischen Ordnung blieb nur wenig übrig.
Als christlichsoziales Sprachrohr fungierte seit 1894 die Reichspost. Mit dem Cartellverband und der 1892 gegründeten Leo-Gesellschaft. Österreichischer Verein christlicher Gelehrter und Freunde der Wissenschaft förderte man die katholische Bildung und Wissenschaft. Hervorzuheben sind auch die kommunalpolitischen Errungenschaften der Christlichsozialen in Wien: Das Gas- und Elektrizitätswerk sowie die öffentlichen Verkehrsmittel kamen in den Besitz der Gemeinde Wien, öffentliche Parks wurden errichtet, Fürsorgeanstalten, Spitäler und Bäder gebaut.
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts standen die habsburgische Reichskrise sowie das Nationalitätenproblem auf der politischen Agenda. Die Christlichsozialen beschlossen am Eggenburger Parteitag von 1905 im Interesse der Erhaltung der Habsburgermonarchie die Neugründung des Reiches auf national-autonomistischer Basis.
Aufgrund der Schwerpunktverlagerung hin zum Konservatismus gewannen die konservativen, besitzenden und agrarischen Schichten, die Bauern- und Wirtschaftskreise, innerhalb der Partei an Einfluss. Auf diesen Umstand reagierte Karl Lueger in seinem politischen Testament wie folgt: „Die Partei möge sich daher hüten, irgendeine spezifische Berufspartei zu werden, sie darf weder eine agrarische noch eine andere spezifische Partei sein, sondern sie muss ihr Augenmerk ebenso auf die großstädtische Bevölkerung und Intelligenz richten wie auf den Bauernstand.“
Als Lueger am 10. März 1911 starb, stürzte die Partei aufgrund von Rivalitäten um die Nachfolge und interner Korruptionsvorwürfe in eine schwere Krise. Bei den im Juni abgehaltenen Reichsratswahlen musste sie eine deutliche Niederlage hinnehmen und büßte ihre führende Rolle in der Hauptstadt ein. Dies hatte jedoch keine unmittelbaren Konsequenzen, da der Wiener Gemeinderat bis zum Ende der Habsburgermonarchie nicht mehr gewählt wurde. Bis dahin bekleidete der christlichsoziale Politiker Richard Weiskirchner das Amt des Wiener Bürgermeisters. Dennoch verloren die Christlichsozialen bereits zu diesem Zeitpunkt ihren Rückhalt in der Wiener Bevölkerung. Die Verlagerung der Christlichsozialen hin zu einer sozial-konservativen und staatstragenden Partei der Klein- und Mittelbürger bedingte den Verlust der großstädtischen und proletarischen Klientel.
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Zitate:
„Die Partei möge sich …“: Karl Lueger, Politisches Testament, zitiert nach: Wandruszka, Adam: Die Habsburgermonarchie von der Gründerzeit bis zum Ersten Weltkrieg, in: Das Zeitalter Kaiser Franz Josephs. 2. Teil 1880-1916. Glanz und Elend (Ausstellungskatalog der Niederösterreichischen Landesausstellung im Schloss Grafenegg), Wien 1987, 17
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Kapitel
- Voraussetzungen und Anfänge politischer Partizipation
- Auf dem Weg zur politischen Mitbestimmung
- Liberalismus und Konservatismus
- Aufstieg und Niedergang des Liberalismus
- Arbeiter vereinigt euch!
- Partei der Massen
- Zwischen Burgfriedenspolitik und linkem Radikalismus
- Karl Lueger und die „Wurstkesselpartei“
- „Der Koloss von Wien“
- Aufstieg und Niedergang
- Bekenntnis zur Monarchie
- „Großdeutsch“, „kleindeutsch“ oder „deutschnational“?
- „Deutsch und treu, so ganz und echt“
- „Preußenseuchlerei“ oder Habsburgerliebe
- Das Ringen um den ‚nationalen Besitzstand’