„Großdeutsch“, „kleindeutsch“ oder „deutschnational“?

Das nationale Lager und seine Strömungen – eine Begriffsklärung

Das deutschnationale Lager umfasste verschiedene, miteinander konkurrierende Gruppierungen und Parteien, die sich je nach ideologischer Ausrichtung als „großdeutsch“, „alldeutsch“, „kleindeutsch“, „völkisch“, „deutschnational“, „deutschösterreichisch“ usw. bezeichneten.


 

Die Fraktionen des nationalen Lagers standen in der Tradition der Deutschliberalen. Ähnlich wie diese gewannen sie ihre Mitglieder über Vorfeldorganisationen bzw. Vereine und unterstützten vornehmlich die Interessen des höheren Bürgertums sowie der Beamtenschaft, der Intelligenz, der Akademiker und Studenten.

Auf die nach der Revolution von 1848 heftig diskutierte „deutsche Frage“, die Frage der zukünftigen Gestaltung Deutschlands und dessen Verhältnis zur Habsburgermonarchie, fanden die deutschnationalen Gruppen Österreichs unterschiedliche Antworten.

Die großdeutsche Bewegung, die sich auf die sogenannte großdeutsche Lösung bezog, trat für ein Weiterbestehen der Habsburgermonarchie ein, bei engster Bindung an das Deutsche Reich. Sie rang mit dem unlösbaren Problem, wie die Einbeziehung der deutschsprachigen Länder des Kaisertums Österreich mit dem (Weiter-)Bestand des Habsburgerreiches zu vereinen sei. Der Dramatiker Friedrich Hebbel bemerkte zum Dilemma der Großdeutschen: „Die lieben Österreicher sinnen jetzt darüber nach, wie sie sich mit Deutschland vereinigen können, ohne sich mit Deutschland zu vereinigen. Es wird schwer auszuführen sein, ebenso schwer, als wenn zwei, die sich küssen sollten, hierbei den Rücken zuzukehren wünschten.“

Anders als die großdeutsche Richtung hofften die Deutschnationalen auf den Niedergang der Habsburgermonarchie und auf den Zusammenschluss der deutschen Provinzen mit einem freiheitlichen Deutschland. Getragen von den nationalen Burschenschaften, den „deutschen“ Turn- und Schulvereinen sowie der freiheitlichen Intelligenz standen sie in der Tradition der Wiener Studentenschaft von 1848 und ihrer nationalen, freiheitlichen und demokratischen Maximen. Sie lehnten Dynastie und Katholizismus ab. Ihre Forderungen fielen vor allem in den deutschen Grenzgebieten Kärntens und der Steiermark aber auch Niederösterreichs auf fruchtbaren Boden, deren BewohnerInnen sich vom ‚Slawentum’ bedroht fühlten.

Am äußeren Rand der deutschnationalen Gruppierung etablierte sich um Georg Ritter von Schönerer die kleindeutsche Bewegung. Diese trat für eine Einigung Deutschlands unter der Führung Preußens ein. Sie befürwortete den Zerfall der Habsburgermonarchie sowie den Zusammenschluss der deutschen Provinzen mit dem seit 1871 bestehenden Deutschen Kaiserreich. Ihre Anhänger vertraten demokratische, antikonservative und antidynastische Prinzipien, schwärmten jedoch gleichzeitig für den ‚preußischen Konservatismus’ Otto von Bismarcks.

Bibliografie 

Berchtold, Klaus: Österreichische Parteiprogramme 1868-1966, Wien 1967

Kriechbaumer, Robert: Die großen Erzählungen der Politik. Politische Kultur und Parteien in Österreich von der Jahrhundertwende bis 1945, Wien/Köln/Weimar 2001

Rumpler, Helmut: Österreichische Geschichte 1804-1914. Eine Chance für Mitteleuropa. Bürgerliche Emanzipation und Staatsverfall in der Habsburgermonarchie, Wien 1997

Vocelka, Karl: Karikaturen und Karikaturen zum Zeitalter Kaiser Franz Josephs, Wien 1986

Vocelka, Karl: Geschichte Österreichs. Kultur – Gesellschaft – Politik, 3. Auflage, Graz/Wien/Köln 2002

Wandruszka, Adam: Österreichs politische Struktur. Die Entwicklung der Parteien und politischen Bewegungen, in: Benedikt, Heinrich (Hrsg.): Geschichte der Republik Österreich, Wien 1977, 289-486

 

Zitate:

„Die lieben Österreicher sinnen …“: Friedrich Hebbel, zitiert nach: Kriechbaumer, Robert: Die großen Erzählungen der Politik. Politische Kultur und Parteien in Österreich von der Jahrhundertwende bis 1945, Wien/Köln/Weimar 2001, 425

Inhalte mit Bezug zu diesem Kapitel

Aspekt

Personen, Objekte & Ereignisse

  • Ereignis

    Revolution 1848

    Studenten fordern die Freiheit für Presse und Lehre. Arbeiter protestieren gegen die unhaltbaren Zustände. Es beginnt eine Reihe von Aufständen gegen das Regime Metternich, die zahlreiche Opfer fordern.

Entwicklungen

  • Entwicklung

    Der Weg zur Nation – Nationale Programme und Positionen

    Das ‚Werden der Nationen’ war in Europa Teil des Emanzipationsprozesses breiterer Bevölkerungsschichten aus feudaler Bevormundung. Gemäß den Idealen der Aufklärung und der Französischen Revolution sollte die Nation – nun verstanden als Gemeinschaft freier Bürger – anstelle feudaler Potentaten die Rolle des eigentlichen Souveräns übernehmen.

    Die Idee der Nation wurde als Schicksalsgemeinschaft definiert, die durch gemeinsame Abstammung, Kultur und Sprache verbunden war. Zur Stärkung des Gruppengefühls wurde eine verbindliche Sicht der Geschichte der eigenen Nation geschaffen.