Ab Mitte der 1860er Jahre gelang es den Liberalen, große Erfolge zu erzielen und dem Liberalismus an die Macht zu verhelfen. Die liberale Ära währte jedoch nur kurz und fand mit der Wahlniederlage der Verfassungspartei im Jahr 1879 ein jähes Ende.
1867 verabschiedete der Reichsrat eine Verfassung mit einem Grundrechtskatalog, das Vereins- und Versammlungsrecht wurde publiziert und 1869 konnte mit dem liberalen Reichsvolksschulgesetz der kirchliche Einfluss im Bildungsbereich vermindert werden. 1870 wurde schließlich das im Jahr 1855 zwischen der Habsburgermonarchie und der katholischen Kirche geschlossene Konkordat aufgehoben und mit der Wahlreform 1873 das direkte Wahlrecht für den Reichsrat errungen.
Die Deutschliberalen besaßen von 1867 bis 1879 die Mandatsmehrheit im Reichsrat, wo sie unter der Bezeichnung „Verfassungspartei“ auftraten. Im Zentrum ihrer Wirtschaftspolitik standen die Gründung von Firmen, Banken und Aktiengesellschaften sowie die Aufforderung, sich an diesen – oftmals auch spekulativen – Unternehmen zu beteiligen. Mit dem Börsenkrach im Jahr 1873 schwand jedoch das Vertrauen in die liberale Wirtschaftspolitik und die Macht der durch interne Richtungskämpfe bereits stark geschwächten Verfassungspartei. Ein Teil der Deutschliberalen wandte sich nun immer stärker dem Deutschnationalismus zu. Im Wesentlichen handelte es sich um einen Konflikt zwischen der älteren und jüngeren Generation, der schließlich zur Spaltung der Liberalen und zur Gründung des deutschnational-liberalen Fortschrittsklubs führte.
Innerhalb des liberalen Lagers entwickelten sich unterschiedliche politische Richtungen, die von den späteren Großparteien – der Sozialdemokratie, den Christlichsozialen und den Deutschnationalen – adaptiert wurden. Obwohl das liberale Erbe in ihnen fortlebte, liegt ihr gemeinsamer Ursprung in der Gegnerschaft zum regierenden Liberalismus und in dem Versuch, den Missständen innerhalb des Vielvölkerstaates entgegenzutreten. Im Linzer Programm aus dem Jahr 1882 einigten sich Vertreter des linken Flügels der sich auflösenden liberalen Bewegung, darunter die späteren Parteigrößen Georg Ritter von Schönerer (Deutschnationale), Robert Pattai (Christlichsoziale) sowie Victor Adler und Engelbert Pernerstorfer (Sozialdemokratie), über die Bewältigung sozialer und nationaler Probleme. Neben deutschnationalen Anliegen – Deutsch sollte Staatssprache werden – bezogen sich die Forderungen auf das Steuerwesen, die Interessenvertretungen der Arbeiter, die Verstaatlichung der Eisenbahnen, die Ausdehnung des Wahlrechts sowie die Presse-, Vereins- und Versammlungsfreiheit.
Die während der liberalen Herrschaft immer stärker hervortretenden nationalen und sozialen Probleme – die miserablen Lebensbedingungen eines wachsenden Großstadtproletariats, die wirtschaftliche Notlage des Kleinbürgertums, der Handwerker und Gewerbetreibenden sowie die sich zuspitzenden Konflikte zwischen den einzelnen Nationalitäten – wusste der Liberalismus nicht zu lösen. Er vertrat die Interessen der Kleinbürger und Arbeiterschaft nur ungenügend und votierte gegen eine Erweiterung des Wahlrechts, um die politische Vormachtstellung des Besitzbürgertums zu sichern. Im Gegensatz zu den Liberalen widmeten sich die neuen politischen Bewegungen der Sozialdemokraten, Christlichsozialen und Deutschnationalen jedoch den drängenden sozialen Fragen des Habsburgerreiches und den Anliegen der bisher vom politischen Entscheidungsprozess ausgeschlossenen Bevölkerungskreise. Ungeachtet ihrer gemeinsamen Ursprünge und Zusammenarbeit gingen die späteren Parteiführer der drei großen Lager aufgrund ihrer unterschiedlichen ideologischen Ausrichtung schließlich getrennte Wege.
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Kapitel
- Voraussetzungen und Anfänge politischer Partizipation
- Auf dem Weg zur politischen Mitbestimmung
- Liberalismus und Konservatismus
- Aufstieg und Niedergang des Liberalismus
- Arbeiter vereinigt euch!
- Partei der Massen
- Zwischen Burgfriedenspolitik und linkem Radikalismus
- Karl Lueger und die „Wurstkesselpartei“
- „Der Koloss von Wien“
- Aufstieg und Niedergang
- Bekenntnis zur Monarchie
- „Großdeutsch“, „kleindeutsch“ oder „deutschnational“?
- „Deutsch und treu, so ganz und echt“
- „Preußenseuchlerei“ oder Habsburgerliebe
- Das Ringen um den ‚nationalen Besitzstand’