Neben der Sprache und dem nationalen Bewusstsein unterschieden sich die Ethnien des habsburgischen Vielvölkerreiches auch nach der Geschlossenheit ihres Siedlungsgebietes. Manche davon befanden sich ausschließlich innerhalb der Grenzen der Habsburgermonarchie, andere auch außerhalb, was einen großen Einfluss auf die historische Entwicklung haben konnte.

Zu den Völkern, deren Siedlungsgebiete sich ausschließlich auf Territorien der Habsburgermonarchie beschränkten, gehörten die Magyaren, Tschechen, Slowaken, Slowenen und Kroaten, deren Nationswerdungsprozess im Rahmen der Habsburgermonarchie stattfand.

Die Siedlungsgebiete anderer Ethnien waren von Staatsgrenzen durchschnitten und somit verfügten diese Völker über Konationale auch außerhalb der Monarchie – was die Situation im Zeitalter der Nationswerdung zusätzlich verkomplizierte.

So verteilte sich das Siedlungsgebiet der Polen seit den polnischen Teilungen, als das historische Königreich von der Landkarte verschwand, auf drei Staaten: Polen lebten nicht nur im Reich der Habsburger, sondern auch im Rahmen des preußischen bzw. später Deutschen Reiches sowie unter der Herrschaft des russischen Zaren. Auch die Ruthenen bzw. Ukrainer befanden sich zum kleineren Teil unter habsburgischer und zum größeren Teil unter russischer Oberhoheit. Im Falle der Serben und Rumänen lebte ebenfalls nur der zahlenmäßig kleinere Teil im Habsburgerreich, während sich die serbischen bzw. rumänischen Kerngebiete lange Zeit unter osmanischem Einfluss befanden. Beide Völker nützten den Verfall des osmanischen Reiches im 19. Jahrhundert zur nationalen Emanzipation und entwickelten eine staatliche Selbstständigkeit, wobei die beiden jungen Nationalstaaten Serbien und Rumänien nun die Funktion einer Schutzmacht über ihre unter habsburgischer Herrschaft verbliebenen Konationalen übernahmen.

Noch komplizierter war die Situation bei den deutsch- und italienischsprachigen Staatsbürgern der Habsburgermonarchie. Beide Gruppen verfügten über eine im Vergleich zu anderen Nationalitäten unter habsburgischer Herrschaft privilegierte Stellung. Die Deutschen waren lange Zeit eindeutig nicht nur zahlenmäßig die dominante ethnische Gruppe, sie konnten auch nach dem ungarischen Ausgleich von 1867 zumindest im österreichischen Reichsteil ihre führende Position in vielen Belangen verteidigen. Die Italiener hingegen waren zwar nach dem Verlust der norditalienischen Provinzen Lombardei und Venetien nur mehr eine zahlenmäßig kleine Volksgruppe innerhalb der Monarchie, aber in ihrem Siedlungsgebiet politisch und sozioökonomisch ihren nationalen Konkurrenten überlegen.

In beiden Fällen siedelten jedoch weitaus größere Teile der jeweiligen Ethnie bzw. Sprachgruppe außerhalb des habsburgischen Staatsverbandes, die außerdem die führende Rolle im Nationswerdungsprozess einnehmen sollten, an dessen Ende die Schaffung des deutschen (1871) bzw. italienischen (1861–1870) Nationalstaates stand.

Beide Staaten – Deutschland und Italien – entstanden unter Ausschluss der jeweiligen Konationalen unter habsburgischer Herrschaft. Diese entwickelten in der Folge teilweise separatistische Tendenzen, welche die territoriale Integrität der Habsburgermonarchie in ihren Grundfesten erschütterte und schließlich – vor allem im Fall der Deutschen – einer der Hauptgründe für die wachsende Instabilität des Reiches von Franz Joseph werden sollten. 

Bibliografie 

Kann, Robert A.: Zur Problematik der Nationalitätenfrage in der Habsburgermonarchie 1848–1918, in: Wandruszka, Adam/Urbanitsch, Peter (Hrsg.): Die Habsburgermonarchie 1848–1918, Band III: Die Völker des Reiches, Wien 1980, Teilband 2, 1304–1338

Křen, Jan: Dvě století střední Evropy [Zwei Jahrhunderte Mitteleuropas], Praha 2005

Rumpler, Helmut: Eine Chance für Mitteleuropa. Bürgerliche Emanzipation und Staatsverfall in der Habsburgermonarchie [Österreichische Geschichte 1804–1914, hrsg. von Herwig Wolfram], Wien 2005

Inhalte mit Bezug zu diesem Kapitel

Aspekt

  • Aspekt

    „Viribus unitis“ oder Völkerkerker?

    Der Vielvölkerstaat Österreich-Ungarn bildete einen mehr oder weniger stabilen Rahmen für die Koexistenz einer Vielzahl nationaler Gemeinschaften.

    Die viel beschworene „Einheit in der Vielfalt“ wurde in der Realität von zahlreichen Ungleichheiten überschattet. Dies zeigte sich vor allem im unterschiedlichen Ausmaß, in dem einzelne Sprachgruppen an der politischen und ökonomischen Macht beteiligt waren.

Personen, Objekte & Ereignisse

Entwicklungen

  • Entwicklung

    Der Weg zur Nation – Nationale Programme und Positionen

    Das ‚Werden der Nationen’ war in Europa Teil des Emanzipationsprozesses breiterer Bevölkerungsschichten aus feudaler Bevormundung. Gemäß den Idealen der Aufklärung und der Französischen Revolution sollte die Nation – nun verstanden als Gemeinschaft freier Bürger – anstelle feudaler Potentaten die Rolle des eigentlichen Souveräns übernehmen.

    Die Idee der Nation wurde als Schicksalsgemeinschaft definiert, die durch gemeinsame Abstammung, Kultur und Sprache verbunden war. Zur Stärkung des Gruppengefühls wurde eine verbindliche Sicht der Geschichte der eigenen Nation geschaffen.