Die Einführung des Grundschulwesens ab der Mitte des 18. Jahrhunderts hatte die Alphabetisierung breiter Bevölkerungsmassen zur Folge. In der Schule wurde aber nicht nur elementare Bildung vermittelt, sondern auch Sprachbewusstsein und nationale Geschichtsbilder.
Gerade bei den Kleinvölkern Zentraleuropas war die Schule essenziell für die Verschriftlichung von Nationalsprachen. Teilweise hatte die Einführung der Schulbildung für viele Volkssprachen auf dem Gebiet der Habsburgermonarchie überhaupt erst zu deren schriftlicher Kodifizierung geführt. Denn für den Schulunterricht musste zunächst eine standardisierte Schriftsprache geschaffen werden, in der Schulbücher verfasst werden konnten. Sprecher einer Sprache, die zuvor nur in dialektalen Varianten mit teilweise extremen regionalen Ausformungen existierte, wurden nun auf eine verbindliche Hochsprache eingeschworen. Das zuvor nur sehr diffuse Zugehörigkeitsgefühl zu einer Sprachgruppe wurde nun zunehmend als verbindendes Moment gesehen.
Jedoch gerade bei Kleinsprachen oder Sprachen, die als weniger prestigeträchtig galten, existierten nur schwache Strukturen im Schulwesen: Es herrschte ein Mangel an qualifiziertem Lehrpersonal, das die jeweilige Sprache beherrschte, was dazu führte, dass der Unterricht oft in „höherrangigen“ Sprachen stattfand. So waren z. B. viele Slowenen oder Ukrainer gezwungen, in Ermangelung eines flächendeckenden Schulwesens in der jeweiligen Sprache deutsche bzw. polnische Schulen zu besuchen, was dazu führte, dass der Erwerb einer höheren Schulbildung oft mit dem Verlust der eigenen sprachlichen Identität einherging und viele Angehörige von benachteiligten Völkern sich der dominanten Nation anschlossen. Dieser Prozess der Akkulturation wurde teilweise auch von der staatlichen Schulverwaltung vorangetrieben, v. a. im Bereich der ungarischen Reichshälfte, wo die Schulen Teil der aggressiven Magyarisierungspolitik gegenüber Rumänen, Slowaken und Südslawen waren. Das fremdsprachige Angebot wurde jedoch oft nicht angenommen, wie der extrem hohe Anteil an Analphabeten gerade in diesen benachteiligten Sprachgruppen zeigt.
Die Schule spielte auch eine herausragende Rolle bei der Vermittlung nationaler Geschichtsbilder. Nicht zuletzt dank des verpflichtenden Schulunterrichts wurde der Nationalismus zu einem Massenphänomen. Im Unterricht wurde das trügerische Ideal einer „nationalen Schicksalsgemeinschaft“ vermittelt, was in der Folge mit einer der Gründe für das Aufbrechen des bisherigen sozialen, ständischen und konfessionellen Gemeinschaftsgefühls war. Nun sah der Tiroler Bauer in einem Grazer Studenten oder in einem nordböhmischen Industriearbeiter einen „deutschen Volksgenossen“, während er sich vom nur wenige Kilometer entfernt unter ähnlichen Bedingungen wirtschaftenden italienischen Gebirgsbauern aus dem Trentino durch scheinbar unüberwindliche nationale Schranken getrennt glaubte.
Kann, Robert A.: Zur Problematik der Nationalitätenfrage in der Habsburgermonarchie 1848–1918, in: Wandruszka, Adam/Urbanitsch, Peter (Hrsg.): Die Habsburgermonarchie 1848–1918, Band III: Die Völker des Reiches, Wien 1980, Teilband 2, 1304–1338
Křen, Jan: Dvě století střední Evropy [Zwei Jahrhunderte Mitteleuropas], Praha 2005
Rumpler, Helmut: Eine Chance für Mitteleuropa. Bürgerliche Emanzipation und Staatsverfall in der Habsburgermonarchie [Österreichische Geschichte 1804–1914, hrsg. von Herwig Wolfram], Wien 2005
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Kapitel
- Das Entstehen der Nationen
- Die Hierarchie der Sprachen
- „Sag mir, welche Sprache Du sprichst – Ich sag Dir, wer Du bist“
- Einheit in der Vielfalt? Das Scheitern des „gesamtösterreichischen“ Nationsbegriffs
- Die Rolle der Geschichte: Von „geschichtlichen“ und „geschichtslosen“ Völkern
- Der Drang zur Vereinigung
- Die Rolle der Schule für die Entstehung eines Nationalbewusstseins