Einheit in der Vielfalt? Das Scheitern des „gesamtösterreichischen“ Nationsbegriffs

Angesichts der besonderen ethnischen, sprachlichen und konfessionellen Vielfalt der Habsburgermonarchie stieß das westeuropäische Konzept der Einheit von Nation und Staat in Zentraleuropa bald an seine Grenzen.

„Mögen auch die Österreicher in zehn verschiedenen Zungen sich Gehör verschaffen, ihre Seele spricht doch eine Sprache.“

Leitspruch der Zeitschrift Österreich, eines kurzlebigen Periodikums für Geschichte, das im letzten Kriegsjahr gestartet wurde. Die hier evozierte Eintracht der Völker unter dem Doppeladler war damals bereits naives Wunschdenken.

Leitspruch der Zeitschrift Österreich

Die Habsburgermonarchie nahm im Zeitalter der Nationswerdung einen anderen Weg als die meisten westeuropäischen Großreiche, die – obwohl zumeist ebenfalls ethnisch heterogen – einen vereinnahmenden Nationsbegriff geschaffen hatten. Als bestes Beispiel gilt hier die französische Grande Nation, die alle Bürger des Staates umfasst, unabhängig von ihrem ethnischen Hintergrund. Im Reich der Habsburger war zwar der Staatsbildungsprozess ebenfalls größtenteils erfolgreich verlaufen, und auch die Bemühungen, das Reich administrativ zu vereinheitlichen, fanden unter Maria Theresia und Joseph II. ihren Höhepunkt. Es gelang aber nicht, eine „gesamtösterreichische Nation“ zu bilden, die über den ethnischen Grenzen gestanden wäre.

Im Gegenteil: Als Antwort auf die Zentralisierungsbestrebungen kam der föderalistische Gedanke auf, und als Reaktion auf die Utopie eines deutsch geführten Einheitsstaates, wie er als Ideal in den josephinischen Reformen formuliert worden war, wurde die Vielfalt lokaler Sprachen betont. Die Verfechter des föderativen Gedankens besannen sich auf regionale Traditionen, in denen man eine Waffe gegen den Wiener Zentralismus zu finden glaubte. Dies musste schließlich auch von der Wiener Regierung akzeptiert werden. Bereits unter Metternich wurden unter dem Schlagwort „Einheit in der Vielfalt“ die Weichen in Richtung eines staatlich geduldeten Landesföderalismus unter dem Schutzmantel der Krone gestellt, um die zentrifugalen Energien in geordnete Bahnen zu lenken. Im Vormärz, einer Epoche der Refeudalisierung und der Aussetzung von Reformen und bürgerlichen Freiheiten, wurde die gemäßigte Form des Länderföderalismus im Sinne der Stärkung eines Landespatriotismus von den Zentralstellen wohlwollend gefördert.

Da das Reich der Habsburger in weiten Teilen jedoch noch ein agrarischer Feudalstaat war, wurden nicht die breiteren Volksschichten Träger dieser Entwicklung, sondern die lokalen Eliten aus Adel und Kirche. Am Anfang der Nationalisierung der ethnischen Gruppen stand der Landespatriotismus, der seinen Ausdruck in der Gründung von Museen und Forschungsinstitutionen fand. Dabei handelte es sich um ein Elitenphänomen, denn die Gelehrten, die sich mit Geschichte, Volks- und Landeskunde beschäftigen, wurden von adeligen Mäzenen unterstützt.

Der Nationswerdungsprozess unter den ethnischen Gruppen der Habsburgermonarchie trat ab der Mitte des 19. Jahrhunderts in eine neue Phase ein. Dank der Industrialisierung und der Emanzipation aus feudaler Bevormundung – Entwicklungen, die in Zentraleuropa im Vergleich zu Westeuropa mit deutlicher Verspätung eingesetzt hatten – war eine bürgerliche Schicht entstanden, die nun die wichtigste Trägerin des Nationsgedankens wurde. Dieses neue Bildungsbürgertum suchte nach alternativen Ausdrucksformen für sein Selbstbewusstsein. Auch kleinere Ethnien verfügten nun über Bildungseliten in der Gestalt von Beamten, Pfarrern und Lehrern, welche die Hauptadressaten für die nationalen Emanzipationsideologien waren. Literarische Pioniere produzierten Dichtung und Prosa in den lokalen Sprachen, in denen der romantische Zeitgeist den Ausdruck der „wahren Seele des Volkes“ zu finden glaubte. Es war dies die Blütezeit der Gründung von Vereinen und volksbildnerischen Initiativen zur „höheren Ehre der Nation“. Dank der fortschreitenden Alphabetisierung breiterer Volksschichten fanden Verlage, die sich auf die Veröffentlichung von Büchern und Zeitschriften in den neu kodifizierten Schriftsprachen spezialisiert hatten, ein neues Publikum. Nicht zuletzt das Schulwesen und die damit verbundene Frage der Unterrichtssprache führten zu einer unerbittlichen Konkurrenz beim Abstecken nationaler Territorien, besonders in gemischtsprachigen Gebieten.

Bibliografie 

Kann, Robert A.: Zur Problematik der Nationalitätenfrage in der Habsburgermonarchie 1848–1918, in: Wandruszka, Adam/Urbanitsch, Peter (Hrsg.): Die Habsburgermonarchie 1848–1918, Band III: Die Völker des Reiches, Wien 1980, Teilband 2, 1304–1338

Křen, Jan: Dvě století střední Evropy [Zwei Jahrhunderte Mitteleuropas], Praha 2005

Rumpler, Helmut: Eine Chance für Mitteleuropa. Bürgerliche Emanzipation und Staatsverfall in der Habsburgermonarchie [Österreichische Geschichte 1804–1914, hrsg. von Herwig Wolfram], Wien 2005

Inhalte mit Bezug zu diesem Kapitel

Aspekt

  • Aspekt

    „Viribus unitis“ oder Völkerkerker?

    Der Vielvölkerstaat Österreich-Ungarn bildete einen mehr oder weniger stabilen Rahmen für die Koexistenz einer Vielzahl nationaler Gemeinschaften.

    Die viel beschworene „Einheit in der Vielfalt“ wurde in der Realität von zahlreichen Ungleichheiten überschattet. Dies zeigte sich vor allem im unterschiedlichen Ausmaß, in dem einzelne Sprachgruppen an der politischen und ökonomischen Macht beteiligt waren.

Entwicklungen

  • Entwicklung

    Der Weg zur Nation – Nationale Programme und Positionen

    Das ‚Werden der Nationen’ war in Europa Teil des Emanzipationsprozesses breiterer Bevölkerungsschichten aus feudaler Bevormundung. Gemäß den Idealen der Aufklärung und der Französischen Revolution sollte die Nation – nun verstanden als Gemeinschaft freier Bürger – anstelle feudaler Potentaten die Rolle des eigentlichen Souveräns übernehmen.

    Die Idee der Nation wurde als Schicksalsgemeinschaft definiert, die durch gemeinsame Abstammung, Kultur und Sprache verbunden war. Zur Stärkung des Gruppengefühls wurde eine verbindliche Sicht der Geschichte der eigenen Nation geschaffen.