„Sag mir, welche Sprache Du sprichst – Ich sag Dir, wer Du bist“

Warum die sozialen Eliten eine andere Sprache sprachen als die breite Masse der Bevölkerung.

Ein weit verbreitetes Phänomen in der Habsburgermonarchie war, dass sich Adel und Bürgertum oft durch die Verwendung einer anderen Sprache von der Mehrheit der bäuerlichen Bevölkerung und den städtischen Unterschichten abgrenzten.

Typisch für Zentraleuropa war, dass die Sprachgrenzen oft weniger geographisch als sozial bedingt waren. Die Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe wurde nicht nur durch den Lebensstil, sondern auch durch die Verwendung bestimmter Sprachen definiert. Die Bevölkerungsmehrheit war in vielen Gebieten oft anderssprachig als die Eliten. Sprache definierte auch den Unterschied zwischen Stadt und Land, denn oft bildeten z. B. die Städte deutsche Sprachinseln in einem anderssprachigen Umfeld, sodass überspitzt formuliert galt: „Stadtluft macht deutsch“.

Das „Volk“ wiederum kommunizierte in regionalen Dialekten oder in (zumeist nicht verschriftlichten) Volkssprachen. Zuweilen, wie z. B. im Fall des Slowakischen oder Slowenischen, existierte kaum Schrifttum in diesen Sprachen, und wenn, dann meist in archaischen Formen, die auf Bibelübersetzungen und religiöse Schriften aus der Zeit der Reformation zurückgingen. Gerade im Fall vieler wenig verbreiteter Sprachen Zentraleuropas muss die besondere Rolle der Kirchen für die Erhaltung und Pflege der Volkssprachen hervorgehoben werden. Denn es war für die Seelsorge notwendig, dass die Priester die jeweiligen lokalen Sprachen verstanden, und zumeist stellte religiöse Literatur wie Predigtsammlungen, Kirchenlieder und Andachtsliteratur die einzigen gedruckten Versionen der Volkssprache dar.

Ein weiteres Phänomen war die „funktionale Mehrsprachigkeit“, worunter man das anlassbezogene „Switchen“ zwischen verschiedenen Sprachen versteht. Das Wechseln zwischen Sprachen war vom sozialen Umfeld und dem Adressaten, aber auch vom Inhalt und Niveau des Gespräches oder Schriftverkehrs abhängig. Eine Folge davon war die Vermischung von Einflüssen auf dialektaler Ebene: es entstanden Hybridformen von Soziolekten wie z.B. das „Wasserpolakische“ im deutsch-polnischen Kontaktraum Schlesiens, oder das „Kuchlbehmische“, eine Mischung von deutschen und tschechischen Elementen.

Auch die Kommunikation nach Außen fand oft in einer anderen als der regionalen Sprache statt. Dies beeinflusste auch die Fremdwahrnehmung: So wurden Böhmen oder Krain von Außenstehenden als deutschsprachige Regionen wahrgenommen, denn hier war Deutsch die Verkehrssprache auch in mehrheitlich anderssprachigen Gebieten.

Das unterschiedliche Prestige von Sprachen führte zur sprachlichen Akkulturation. Sozialer Aufstieg und Bildungserwerb bedeuteten für viele Angehörige kleinerer Sprachgruppen eine Anpassung an ein anderssprachliches Milieu. Der Wechsel der Sprache und in späterer Folge auch der nationalen Identität war für den Großteil der ökonomischen oder sozialen Aufsteiger Realität, was zu einem massiven „brain-drain“ hin zur dominierenden Sprachgruppe führte. So nahmen die gebildeten Eliten der Habsburgermonarchie oft einen deutschen kulturellen Habitus an, auch wenn diese ethnisch nicht deutscher Herkunft waren.

Die Führer der nationalen Wiedergeburt der kleineren Völker wirkten dem Primat des Deutschen durch den Aufbau eines sprachlichen Selbstbewusstseins entgegen. Mit geradezu missionarischem Eifer wurde für das offene Bekenntnis zu einer bestimmten Sprache geworben. Die „Altehrwürdigkeit“ dieser oder jener Sprache wurde als Existenzberechtigung in sogenannten „Verteidigungsschriften“ propagiert. Ruhmreiche,  aber zumeist verschüttete geschichtliche Traditionen wurden in einer Flut von landeskundlichen, ethnographischen und linguistischen Abhandlungen rekonstruiert. Diese Entwicklungen wurden zunächst von den anderssprachigen Eliten geduldet, ja sogar wohlwollend gefördert – jedoch nur solange die traditionelle Hierarchie unangetastet blieb. Erst als das aus philologisch-historischem Interesse heraus geförderte Sprachenbewusstsein zu einem Massenphänomen geworden war und Forderungen artikuliert wurden, welche die herkömmliche sprachliche Hierarchie in Frage stellten, nahmen die bisherigen Eliten dies als Bedrohung wahr.

Bibliografie 

Kann, Robert A.: Zur Problematik der Nationalitätenfrage in der Habsburgermonarchie 1848–1918, in: Wandruszka, Adam/Urbanitsch, Peter (Hrsg.): Die Habsburgermonarchie 1848–1918, Band III: Die Völker des Reiches, Wien 1980, Teilband 2, 1304–1338

Křen, Jan: Dvě století střední Evropy [Zwei Jahrhunderte Mitteleuropas], Praha 2005

Rumpler, Helmut: Eine Chance für Mitteleuropa. Bürgerliche Emanzipation und Staatsverfall in der Habsburgermonarchie [Österreichische Geschichte 1804–1914, hrsg. von Herwig Wolfram], Wien 2005

Inhalte mit Bezug zu diesem Kapitel

Aspekt

  • Aspekt

    „Viribus unitis“ oder Völkerkerker?

    Der Vielvölkerstaat Österreich-Ungarn bildete einen mehr oder weniger stabilen Rahmen für die Koexistenz einer Vielzahl nationaler Gemeinschaften.

    Die viel beschworene „Einheit in der Vielfalt“ wurde in der Realität von zahlreichen Ungleichheiten überschattet. Dies zeigte sich vor allem im unterschiedlichen Ausmaß, in dem einzelne Sprachgruppen an der politischen und ökonomischen Macht beteiligt waren.

Entwicklungen

  • Entwicklung

    Der Weg zur Nation – Nationale Programme und Positionen

    Das ‚Werden der Nationen’ war in Europa Teil des Emanzipationsprozesses breiterer Bevölkerungsschichten aus feudaler Bevormundung. Gemäß den Idealen der Aufklärung und der Französischen Revolution sollte die Nation – nun verstanden als Gemeinschaft freier Bürger – anstelle feudaler Potentaten die Rolle des eigentlichen Souveräns übernehmen.

    Die Idee der Nation wurde als Schicksalsgemeinschaft definiert, die durch gemeinsame Abstammung, Kultur und Sprache verbunden war. Zur Stärkung des Gruppengefühls wurde eine verbindliche Sicht der Geschichte der eigenen Nation geschaffen.