Die Hierarchie der Sprachen

Die Habsburgermonarchie war ein Vielvölkerreich, in dem mehr als ein Dutzend verschiedener Sprachen gesprochen wurde. Einige Idiome hatten jedoch ein höheres Prestige als andere. Im Laufe der Geschichte war die Gewichtung der Sprachen einem steten Wandel unterworfen.

Bestimmte Sprachen hatten in der Vormoderne verschiedene Funktionen bzw. wurden in einem genau definierten Umfeld oder in bestimmten Situationen verwendet. Im katholischen Raum ist dies am Beispiel des Lateinischen klar ersichtlich, das als Sprache der Kirche galt. Das hohe Ansehen ließ die Liturgiesprache in der Folge auch zur Sprache der Wissenschaft werden. Abgehoben von den Alltagssprachen, umgab das Lateinische eine besondere Aura.

Ähnlich verhielt es sich im slawisch-orthodoxen Raum, wo das Altkirchenslawische den orthodoxen Christen als Liturgie- und Literatursprache diente. Daneben stand das Griechische als Sprache des byzantinischen Kulturraumes in hohem Ansehen.

Bei den Juden galt wiederum das Hebräische als „heilige Sprache“, die für den religiösen Bereich und andere spezielle Themen wie Wissenschaft und Recht reserviert war, während im Alltag Jiddisch oder die Sprache der umgebenden Mehrheitsbevölkerung gesprochen wurde.

Unter den muslimischen Bosniaken, die lange Zeit im Einflussbereich des Osmanischen Reiches gestanden waren, hatte wiederum das Arabische als Sprache des Korans eine besondere Stellung. Daneben dienten andere orientalische Sprachen wie Persisch und Türkisch als Literatur- und Verwaltungssprachen, während im Alltag ein slawisches Idiom verwendet wurde.

Die höherrangigen Sprachen hatten jedoch auch Einfluss auf die Alltagssprachen. So wurde in der Regel die Schrift der prestigeträchtigen Kultursprache verwendet, wenn die verschiedenen Volkssprachen verschriftlicht wurden. Die slawischen Bosniaken verwendeten arabische Buchstaben, während das Rumänische bis weit ins 19. Jahrhundert in kyrillischer Schrift wiedergegeben wurde, obwohl es nicht zur slawischen Sprachfamilie gehört. Jiddisch wiederum wird bis heute in hebräischen Lettern geschrieben, obwohl diese Verkehrsprache der aschkenasischen Juden Osteuropas aus dem Mittelhochdeutschen entstanden war.

Spätestens im Zeitalter der Aufklärung kam es zu einem Wandel in der Hierarchie der Sprachen. Im zentraleuropäischen Raum übernahm das Deutsche in vielen Bereichen die Rolle des Lateinischen als Sprache der Wissenschaft und Verwaltung. Daneben gehörte aber auch die Beherrschung von Prestigesprachen wie Französisch als Konversationssprache der europäischen Eliten oder Italienisch als Sprache der Kunst zum Kanon gebildeter Schichten.

Im Bereich der Habsburgermonarchie entwickelte sich Deutsch zur überregionalen Verkehrssprache der sozialen und ökonomischen Eliten. Deutsch war hier sozusagen der „kleinste gemeinsame Nenner“, als man im Rahmen der maria-theresianischen Zentralisierungsbestrebungen und josephinischen Reformen eine einheitliche Verwaltungssprache für die zentrale Bürokratie und eine Kommandosprache für die Armee benötigte.

Diese Vereinheitlichungsbestrebungen trafen jedoch auf Widerstände. Die adeligen Ständegemeinden als Vertreter eines Landes sahen ihr Monopol auf die lokale Verwaltung und Rechtssprechung schwinden und reagierten mit der Betonung regionaler Eigenheiten. Dies ging Hand in Hand mit der „Wiederentdeckung“ von zumeist bereits verschütteten Sprachtraditionen: So sah der böhmische Adel – unabhängig von der ethnischen Herkunft – im Tschechischen, das im Spätmittelalter und in der Frühneuzeit die bestimmende Verwaltungssprache der böhmischen Länder gewesen war, einen Ausdruck der Opposition zu Vereinheitlichungsbestrebungen der habsburgischen Zentralverwaltung. Ähnlich verhielt es sich mit dem Ungarischen, dessen Verwendung nun als Ausdruck der Zugehörigkeit zur ungarischen Krone galt. Auch das Polnische in Galizien und das Kroatische in Kroatien wurden als Sprachen regionaler, ständisch-feudaler Herrschaft mit neuer Bedeutung aufgeladen. 

Bibliografie 

Kann, Robert A.: Zur Problematik der Nationalitätenfrage in der Habsburgermonarchie 1848–1918, in: Wandruszka, Adam/Urbanitsch, Peter (Hrsg.): Die Habsburgermonarchie 1848–1918, Band III: Die Völker des Reiches, Wien 1980, Teilband 2, 1304–1338

Křen, Jan: Dvě století střední Evropy [Zwei Jahrhunderte Mitteleuropas], Praha 2005

Rumpler, Helmut: Eine Chance für Mitteleuropa. Bürgerliche Emanzipation und Staatsverfall in der Habsburgermonarchie [Österreichische Geschichte 1804–1914, hrsg. von Herwig Wolfram], Wien 2005

Inhalte mit Bezug zu diesem Kapitel

Aspekt

  • Aspekt

    „Viribus unitis“ oder Völkerkerker?

    Der Vielvölkerstaat Österreich-Ungarn bildete einen mehr oder weniger stabilen Rahmen für die Koexistenz einer Vielzahl nationaler Gemeinschaften.

    Die viel beschworene „Einheit in der Vielfalt“ wurde in der Realität von zahlreichen Ungleichheiten überschattet. Dies zeigte sich vor allem im unterschiedlichen Ausmaß, in dem einzelne Sprachgruppen an der politischen und ökonomischen Macht beteiligt waren.

Entwicklungen

  • Entwicklung

    Der Weg zur Nation – Nationale Programme und Positionen

    Das ‚Werden der Nationen’ war in Europa Teil des Emanzipationsprozesses breiterer Bevölkerungsschichten aus feudaler Bevormundung. Gemäß den Idealen der Aufklärung und der Französischen Revolution sollte die Nation – nun verstanden als Gemeinschaft freier Bürger – anstelle feudaler Potentaten die Rolle des eigentlichen Souveräns übernehmen.

    Die Idee der Nation wurde als Schicksalsgemeinschaft definiert, die durch gemeinsame Abstammung, Kultur und Sprache verbunden war. Zur Stärkung des Gruppengefühls wurde eine verbindliche Sicht der Geschichte der eigenen Nation geschaffen.