Das Entstehen der Nationen

Der uns heute selbstverständlich erscheinende Begriff der Nation ist ein vergleichsweise junges Phänomen. Der Weg zur modernen Auffassung der Nation im Sinne eines scheinbar naturgegebenen Kollektivs, das sich durch gemeinsame Sprache, Traditionen und Abstammung definiert, war ein komplizierter Prozess.

Bereits im Mittelalter und in der Frühneuzeit unterschied man die Menschen nach ethnischen Merkmalen, nach der Sprache oder der Herkunft aus einer Region. Auch in der Selbstsicht verband die Bewohner eines bestimmten Territoriums das Bewusstsein einer gemeinsamen, realen oder mythisierten Vergangenheit. Dieser „Protonationalismus“ äußerte sich jedoch im Gefühl der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Krone oder Region: So sahen sich z. B. sowohl die deutsch- wie tschechischsprachigen Bewohner Böhmens als Untertanen der böhmischen Sankt Wenzelskrone, genauso wie sich die deutsch- und die slowenischsprachigen Steirer zum Land Steiermark bekannten. Dieses vage Zugehörigkeitsgefühl zu einem Land war aber ethnisch noch nicht eindeutig festgelegt, obwohl in diesen identitätsstiftenden Merkmalen die Wurzeln für die spätere Entwicklung des nationalen Gedankens lagen.

Ein weiterer Schritt zur modernen Nation war die Entstehung von Staaten. Die zentralistischen und vereinheitlichenden Tendenzen staatlicher Obrigkeiten ersetzten ab dem 16. Jahrhundert die feudale Zersplitterung und regionale Sonderformen auf der Rechts- und Verwaltungsebene. Das Ideal des Absolutismus war der klar definierte Flächenstaat mit einer homogenen Bevölkerung in Bezug auf Konfession und Sprache.

Der Zerfall der traditionellen patriarchalisch-feudalen Gesellschaften am Ende des 18. Jahrhunderts brachte erstmals die breiteren Volksschichten ins Spiel. Die Aufklärung führte zu einer Schwächung des religiös verankerten Weltbildes und zu einer Säkularisierung der Gesellschaft. Die Nation, nun verstanden als Gefühl der sprachlich-ethnischen Zusammengehörigkeit einer größeren Gruppe, bot sich als Ersatzreligion an.

Einen machtvollen Schub erhielt der Gedanke der modernen Nation durch die Ideale der Französischen Revolution. Es war dies eine neue Erfahrung: Nun galt die Nation an Stelle der Monarchie als Trägerin des Staatsgedankens. Dabei wurde der humanistisch-demokratische Ansatz betont: Freie Bürger dienten der höheren Idee einer gemeinsamen Sache – und nicht mehr der dynastischen Politik feudaler Potentaten.

Der gleichzeitig einsetzende allgemeine ökonomische Fortschritt im Zeitalter der Industrialisierung beschleunigte die Verbreitung dieser Ideen. Bald jedoch zeigte sich die Zweipoligkeit des Prozesses: Denn der Fortschritt brachte den Verlust der traditionellen Identitäten und eine Aufweichung der Verankerung in lokalen Gemeinschaften. Als Reaktion darauf machte sich die Romantik auf die Suche nach dem Echten, Unverfälschten. Die idyllisierte Volkskultur und die mythisierte Vergangenheit wurden nun zur Quelle der Inspiration. Das hatte einen gewissen inneren Widerspruch zur Folge, denn der Nationalismus war so gesehen das Produkt einer demokratisch-emanzipatorischen Bewegung und zugleich die konservative Abwehrreaktion gegen deren Folgen.

Während anfänglich der Wert der Vielfalt betont und die Brüderlichkeit der Völker beschworen wurde, implizierte der Prozess der Selbstfindung der nationalen Gemeinschaften die Abgrenzung zu „den Anderen“. Bald trat ein deutliches Hegemonialdenken zu Tage, da die eigene Nation als den übrigen überlegen dargestellt wurde. Massentaugliche Abwehrideologien wurden geschaffen, auf welche die entstehenden Nationen eingeschworen wurden. In deren Fokus standen „Feinde“, gegen die nationale Besitzstände verteidigt werden mussten – wie es Grillparzer in seinem bekannten Diktum formulierte: „Von der Humanität zur Nationalität zur Bestialität“.

Bibliografie 

Kann, Robert A.: Zur Problematik der Nationalitätenfrage in der Habsburgermonarchie 1848–1918, in: Wandruszka, Adam/Urbanitsch, Peter (Hrsg.): Die Habsburgermonarchie 1848–1918, Band III: Die Völker des Reiches, Wien 1980, Teilband 2, 1304–1338

Křen, Jan: Dvě století střední Evropy [Zwei Jahrhunderte Mitteleuropas], Praha 2005

Rumpler, Helmut: Eine Chance für Mitteleuropa. Bürgerliche Emanzipation und Staatsverfall in der Habsburgermonarchie [Österreichische Geschichte 1804–1914, hrsg. von Herwig Wolfram], Wien 2005

Inhalte mit Bezug zu diesem Kapitel

Aspekt

  • Aspekt

    „Viribus unitis“ oder Völkerkerker?

    Der Vielvölkerstaat Österreich-Ungarn bildete einen mehr oder weniger stabilen Rahmen für die Koexistenz einer Vielzahl nationaler Gemeinschaften.

    Die viel beschworene „Einheit in der Vielfalt“ wurde in der Realität von zahlreichen Ungleichheiten überschattet. Dies zeigte sich vor allem im unterschiedlichen Ausmaß, in dem einzelne Sprachgruppen an der politischen und ökonomischen Macht beteiligt waren.

Entwicklungen

  • Entwicklung

    Der Weg zur Nation – Nationale Programme und Positionen

    Das ‚Werden der Nationen’ war in Europa Teil des Emanzipationsprozesses breiterer Bevölkerungsschichten aus feudaler Bevormundung. Gemäß den Idealen der Aufklärung und der Französischen Revolution sollte die Nation – nun verstanden als Gemeinschaft freier Bürger – anstelle feudaler Potentaten die Rolle des eigentlichen Souveräns übernehmen.

    Die Idee der Nation wurde als Schicksalsgemeinschaft definiert, die durch gemeinsame Abstammung, Kultur und Sprache verbunden war. Zur Stärkung des Gruppengefühls wurde eine verbindliche Sicht der Geschichte der eigenen Nation geschaffen.