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Thema Vom Volk zur Nation
Die Rolle der Geschichte: Von „geschichtlichen“ und „geschichtslosen“ Völkern
Bei der Beschäftigung mit dem Nationalitätenproblem in der Habsburgermonarchie trifft man häufig auf die Unterscheidung zwischen „geschichtlichen“ und „geschichtslosen“ Völkern. Diese Trennung ist einigermaßen befremdlich, denn wie kann eine Volksgruppe, die über Jahrhunderte existierte, keine Geschichte haben?
Diese Unterscheidung geht zurück auf die andere Gewichtung der Geschichtsforschung des 19. und frühen 20. Jahrhunderts, in der primär die politische Staatsgeschichte aus dem Blickwinkel der Eliten erforscht wurde. Manche Autoren unterschieden die Ethnien nach dem Vorhandensein einer eigenen Herrschaftsklasse (Otto Bauer), andere sahen die „Geschichtlichkeit“ von Volksgruppen nur dann gegeben, wenn diese Trägerin einer nationalen Staatsgeschichte war (Josef Redlich).
In der modernen Geschichtsforschung dominiert heute ein breiterer Ansatz, nach dem Geschichte nicht nur als Abfolge von Schlachten und Verträgen zu verstehen ist, sondern Gesellschaft, Politik, Wirtschaft und Kultur aus unterschiedlichen Blickwinkeln untersucht werden. Doch auch so fallen Unterschiede in der historischen Entwicklung der verschiedenen Nationalitäten der Habsburgermonarchie auf – nämlich der ungleiche Anteil der einzelnen Volksgruppen an der politischen Macht. Die moderne Sozialgeschichte verwendet hierfür die Begriffe „dominante ethnische Gruppen“ bzw. „nicht-dominante ethnische Gruppen“.
In der Habsburgermonarchie können im 19. Jahrhundert die Deutsch-Österreicher und Italiener als dominante Völker bezeichnet werden, verfügten sie doch über eigene gesellschaftliche und ökonomische Eliten (Adel, Großbürgertum) und über eine kodifizierte Schriftsprache, die alle Qualitäten einer modernen Literatursprache besaß. Weiters hatten diese beiden Sprachgruppen trotz der staatlichen Zersplitterung ein starkes kulturelles und sprachliches Nationsbewusstsein entwickelt.
Eine Zwitterstellung nahmen die Polen, die Ungarn sowie im geringeren Maße die Tschechen und Kroaten ein, die über geschwächte staatliche Traditionen verfügten. Ihre protonationalen Staaten waren im Laufe der Geschichte untergegangen oder in größeren Reichen aufgegangen. Die Sprachen dieser Völker, obwohl in späterer Zeit größtenteils aus der Verwaltung verdrängt, konnten sich gewisse Qualitäten als Schrift- und Literatursprachen erhalten. Bei ihnen war ein historisches Echo einer verlorenen Staatlichkeit vorhanden, wobei verschüttete staatliche Traditionen als Referenzpunkte dienten, die im Prozess der Nationswerdung wiederbelebt wurden. In der Realisierung der Forderungen wurden unterschiedliche Erfolge erzielt: Während es den Magyaren gelang, eine staatliche Autonomie innerhalb der Habsburgermonarchie durchzusetzen (Ausgleich von 1867), erlangten die anderen der genannten Völker den ersehnten staatsrechtlichen Status erst nach dem Zerfall der Habsburgermonarchie.
Bei anderen Ethnien wie den Serben, Slowaken, Slowenen, Ukrainern oder Rumänen fehlte in der Regel lange Zeit eine kodifizierte Schriftsprache, und man konnte nur bedingt auf eine staatliche Vergangenheit zurückgreifen, die oft nur in Form verklärter historischer Wurzeln in mittelalterlichen oder antiken Großreichen bestand.
So diente bei den Slowenen das frühmittelalterliche Karantanien, bei den Slowaken das Großmährische Reich als Projektionsfläche nationaler Ansprüche. Die Rumänen sahen sich als Abkommen der antiken Daker, die sich mit römischen Kolonisten vermischt hätten, wodurch in humanistischer Tradition das Faktum der romanischen Sprache erklärt wurde. Die Serben beklagten den Untergang ihres mittelalterlichen Reiches durch die osmanische Expansion auf dem Balkan, wobei die Schlacht auf dem Amselfeld/Kosovo Polje (1389) als Referenzpunkt diente. Die Ukrainer sahen in Gestalt der Kiewer Rus ihre Volksgruppe überhaupt an der Wiege der russischen Staatlichkeit stehen. Die mythisierte frühe Staatlichkeit, die der Aggression anderer dominanter Ethnien zum Opfer gefallen war, diente diesen Völkern nun als eine Art moralische Argumentationshilfe bei der Verteidigung „historischer Rechte“ auf das jeweilige Siedlungsgebiet.
Kann, Robert A.: Zur Problematik der Nationalitätenfrage in der Habsburgermonarchie 1848–1918, in: Wandruszka, Adam/Urbanitsch, Peter (Hrsg.): Die Habsburgermonarchie 1848–1918, Band III: Die Völker des Reiches, Wien 1980, Teilband 2, 1304–1338
Křen, Jan: Dvě století střední Evropy [Zwei Jahrhunderte Mitteleuropas], Praha 2005
Rumpler, Helmut: Eine Chance für Mitteleuropa. Bürgerliche Emanzipation und Staatsverfall in der Habsburgermonarchie [Österreichische Geschichte 1804–1914, hrsg. von Herwig Wolfram], Wien 2005
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Kapitel
- Das Entstehen der Nationen
- Die Hierarchie der Sprachen
- „Sag mir, welche Sprache Du sprichst – Ich sag Dir, wer Du bist“
- Einheit in der Vielfalt? Das Scheitern des „gesamtösterreichischen“ Nationsbegriffs
- Die Rolle der Geschichte: Von „geschichtlichen“ und „geschichtslosen“ Völkern
- Der Drang zur Vereinigung
- Die Rolle der Schule für die Entstehung eines Nationalbewusstseins