Der radikale Deutschnationalismus und seine Haltung zur Habsburgermonarchie
Immer mehr Deutsch-Österreicher begannen im seit 1871 geeinten Deutschland ihre „wahre Heimat“ zu sehen. Die weit verbreitete und von den österreichischen Behörden mehr schlecht als recht geduldete Bismarck-Verehrung galt als Ausdruck des deutschen Irredentismus, als Verlangen nach „nationaler Erlösung“ in Form einer Vereinigung mit dem Deutschen Reich.
Es braust ein Ruf wie Donnerhall,
Wie Schwertgeklirr und Wogenprall:
Zum Rhein, zum Rhein, zum deutschen Rhein!
Wer will des Stromes Hüter sein?
Lieb’ Vaterland, magst ruhig sein,
Fest steht und treu die Wacht am Rhein!
Die „Wacht am Rhein“ gilt als Kampflied der deutschnationalen Bewegung. Sie geht auf ein Gedicht von Max Schneckenburger aus dem Jahre 1840 zurück, das 1854 von Carl Wilhelm vertont wurde.
Deutschland galt im Vergleich mit dem von nationalen Streitereien gelähmten Österreich Vielen als großes Vorbild. Im Deutschen Kaiserreich verband sich der zunehmend aggressive deutsche Nationalismus – befeuert vom Gründungsmythos des geeinten Nationalstaates, der 1871 „aus Blut und Eisen“ in der Konfrontation gegen Frankreich hervorgegangen war – mit einem rasanten wirtschaftlichen Aufstieg. Deutschland galt als Symbol für Dynamik und entwickelte sich zur führenden Industriemacht am Kontinent.
Innerhalb der deutschen Sprachgruppe in Österreich führte dies zu einem Wandel in der Haltung gegenüber der Habsburgermonarchie. Die alten etablierten deutsch-liberalen Parteien, die das deutsche Nationalbewusstsein mit der Loyalität zu Österreich und einem starken Maß an Verantwortungsbewusstsein für den Gesamtstaat verbanden, wurden von einer jüngeren Generation von Deutschnationalen abgelöst.
Die Forderungen des deutschnationalen Lagers gewannen nun an Radikalität und das rein nationale Interesse stand im Vordergrund. Dies bedeutete auch das Ende der zentralistischen Gesamtstaatsidee, die vor allem von den deutschen Liberalen getragen worden war, und von den politischen Vertretern der nationalistischen Strömungen nun als Fessel ihrer nationalen Selbstverwirklichung abgelehnt wurde.
Das Endziel der deutschnationalen Agitation war die Abspaltung der deutschsprachigen Gebiete und deren Anschluss an Deutschland – auch zum Preis des Unterganges der Habsburgermonarchie. Damit folgten sie dem Ideal des Pangermanismus, der Forderung nach der staatlichen Zusammenführung aller Deutschen, die für das traditionelle Staatensystem Zentraleuropas eine unberechenbare Bedrohung darstellte.
Am rechten Rand der deutschnationalen Strömungen verbreitete sich seit den 1880er Jahren eine prononciert völkisch-rassische Weltanschauung, wobei die vermeintliche Höherwertigkeit der „germanischen Rasse“ postuliert wurde. Besonders radikal war diese Strömung in Österreich ausgeprägt – waren hier doch Viele frustriert wegen der Umsetzung der kleindeutschen Lösung und der daraus resultierenden Trennung vom „deutschen Vaterland“. Auch war dies eine Reaktion auf die erfolgreiche Emanzipation der Slawen und Ungarn aus der deutschen Vorherrschaft. Dem radikalen, völkischen Deutschnationalismus wandten sich erstaunlich viele frühere Liberale und Intellektuelle zu, wobei die unrühmliche Rolle der Universitäten hierbei nicht vergessen werden darf.
Die radikalste Strömung des Deutschnationalismus in der Habsburgermonarchie fand ihre Hauptfigur in Georg von Schönerer (1842–1921), dem Führer des radikalen Flügels der Deutschnationalen. Schönerer war ein grobschlächtiger Demagoge und gab sich dezidiert antiklerikal, antislawisch und antisemitisch – womit er sich von den etablierten Deutschliberalen abgrenzte, die das klassische Sammelbecken der ökonomisch erfolgreichen und assimilierten bürgerlichen Juden bildeten. Schönerers politischer „Stil“ erschöpfte sich in Hetzreden und medialer Polemik und scheute auch vor offener Gewaltbereitschaft nicht zurück.
Hanisch, Ernst: Der lange Schatten des Staates. Österreichische Gesellschaftsgeschichte im 20. Jahrhundert [Österreichische Geschichte 1890–1990, hrsg. von Herwig Wolfram], Wien 2005
Kann, Robert A.: Zur Problematik der Nationalitätenfrage in der Habsburgermonarchie 1848–1918, in: Wandruszka, Adam/Urbanitsch, Peter (Hrsg.): Die Habsburgermonarchie 1848–1918, Band III: Die Völker des Reiches, Wien 1980, Teilband 2, 1304–1338
Rumpler, Helmut: Eine Chance für Mitteleuropa. Bürgerliche Emanzipation und Staatsverfall in der Habsburgermonarchie [Österreichische Geschichte 1804–1914, hrsg. von Herwig Wolfram], Wien 2005
Sutter, Berthold: Die Deutschen, in: Wandruszka, Adam/Urbanitsch, Peter (Hrsg.): Die Habsburgermonarchie 1848–1918, Band III: Die Völker des Reiches, Wien 1980, Teilband 1, 154–339
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Kapitel
- Die Deutsch-Österreicher in der Habsburgermonarchie
- Deutsche Österreicher oder österreichische Deutsche?
- Der Kitt des Reiches: Die Deutsch-Österreicher als Träger des Gesamtstaatgedankens
- Auf der Suche nach dem Vaterland: Die deutsche Nationswerdung
- Dabei sein ist alles? Österreich und der Prozess der deutschen Einigung
- Die Angst vor dem Verlust der Hegemonie: Die Deutsch-Österreicher im österreichischen Vielvölkerstaat
- Der radikale Deutschnationalismus und seine Haltung zur Habsburgermonarchie
- Das Konzept des „Deutschen Mitteleuropas“
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Kapitel
- Der Drang zur Vereinigung
- Der radikale Deutschnationalismus und seine Haltung zur Habsburgermonarchie
- Das Konzept des „Deutschen Mitteleuropas“
- Gemeinsam sind wir stark: Der Panslawismus und das „Slawentum“
- Aufstieg und Fall des Austroslawismus
- „Zwei Zweige einer Nation“ – Der Tschechoslowakismus als politisches Programm
- Viva l’Italia! Der italienische Irredentismus und die Habsburgermonarchie
- Vom Illyrismus zum Jugoslawismus: Konkurrierende Konzepte einer „südslawischen Nation“
- Élyen a Magyar – Lang lebe der Magyare! Die ungarische Magyarisierungspolitik