Der Kitt des Reiches: Die Deutsch-Österreicher als Träger des Gesamtstaatgedankens

Den Deutsch-Österreichern kam in der Habsburgermonarchie eine spezielle Rolle zu: als zahlenmäßig größte und gesellschaftlich wie ökonomisch am höchsten entwickelte Sprachgruppe waren sie die wichtigsten Träger des Gesamtstaatsgedankens.

Dennoch war die Habsburgermonarchie definitiv kein „deutscher“ Staat, weder in der Selbstwahrnehmung noch in der Wahrnehmung von Außen – denn Österreich war stets auch massiv von den anderen Ethnien geprägt.

Dementsprechend war der österreichische Staatspatriotismus supranational ausgelegt. Der Fokus lag auf der Dynastie, wobei sich in der Spätzeit der Blickwinkel auf Kaiser Franz Joseph reduzierte. Der Kaiser selbst sah sich als „deutscher Monarch“, verhielt sich im Nationalitätenstreit jedoch stets neutral.

Trotz aller Vielfalt kamen der deutschen Sprache und Kultur in der Donaumonarchie eine besondere Funktion zu. Die deutsche Sprachgruppe lebte über das gesamte Reich verstreut und bildete – obwohl in vielen Reichsteilen zahlenmäßig wenig bedeutend – ein ökonomisch und kulturell starkes Element, das auch als „Vorposten“ der Wiener Zentralstellen eine verbindende Rolle zwischen den Provinzen erfüllte. Die Deutsch-Österreicher galten lange Zeit als die zur Dynastie am loyalsten stehende Volksgruppe, da die überwiegend deutschsprachigen österreichischen Erbländer mit der kaiserlichen Haupt- und Residenzstadt Wien das Kerngebiet habsburgischer Macht darstellten.

Obwohl Deutsch nie die alleinige und offizielle Staatssprache war, stellte es dennoch die mit Abstand wichtigste Verkehrs- und Verwaltungssprache dar. Als Kommunikationsmittel zwischen nicht-deutschsprachigen Vertretern der unterschiedlichen Ethnien war es der kleinste gemeinsame Nenner unter den Sprachen der Habsburgermonarchie.

Als wichtigster Träger des Gesamtstaatsgedanken wurde das Deutsche vor allem in der liberalen Ära (1861–1879) verstanden, als die Weichen zur Neuorganisation der Monarchie in Richtung Zentralismus gestellt wurden.

Sprachlich waren dadurch die deutschen Eliten bei der Beteiligung an der politischen Entscheidungsfindung privilegiert. Das damals herrschende Zensuswahlrecht beschränkte die Teilnahme am Parlamentarismus auf die vermögenden Schichten aus dem etablierten Großbürgertum, der Hochfinanz und Industrie sowie dem liberal eingestellten Adel – alles Gruppen, die sich zum überwiegenden Teil aus der deutschen Sprachgruppe rekrutierten. Umgekehrt implizierte damals die Zugehörigkeit zu den sozialen Eliten auch das Bekenntnis zur deutschen Kultur und Sprache.

So war der Reichsrat ab 1861 de facto eine exklusive Versammlung der Deutsch-Liberalen, die eine Honoratiorenpartei der deutschsprachigen Eliten darstellten. Von den meisten anderen Nationalitäten, die krass unterrepräsentiert waren, wurde der Parlamentarismus als Zeichen der Ablehnung der Ziele des deutsch geprägten Zentralismus obstruiert.

Gegen Ende des 19. Jahrhunderts  kam es jedoch zu einem prägnanten Wandel. Angesichts der Emanzipation der Kleinvölker der Habsburgermonarchie aus der deutschen Hegemonie war deren politische Rolle dank eines rasanten Aufholprozesses stark im Wachsen begriffen. Die immer selbstbewussteren Forderungen rüttelten am Primat der Deutschen, deren Vormachtstellung zunehmend hinterfragt wurde. 

Bibliografie 

Kann, Robert A.: Die Habsburgermonarchie und das Problem des übernationalen Staates, in: Wandruszka, Adam/Urbanitsch, Peter (Hrsg.): Die Habsburgermonarchie 1848–1918, Band II: Verwaltung und Rechtswesen, Wien 1975, 1–56

Rumpler, Helmut: Eine Chance für Mitteleuropa. Bürgerliche Emanzipation und Staatsverfall in der Habsburgermonarchie [Österreichische Geschichte 1804–1914, hrsg. von Herwig Wolfram], Wien 2005

Stourzh, Gerald: Die Gleichberechtigung der Nationalitäten in der Verfassung und Verwaltung Österreichs 1848 bis 1918, Wien 1985

Sutter, Berthold: Die Deutschen, in: Wandruszka, Adam/Urbanitsch, Peter (Hrsg.): Die Habsburgermonarchie 1848–1918, Band III: Die Völker des Reiches, Wien 1980, Teilband 1, 154–339

Inhalte mit Bezug zu diesem Kapitel

Aspekt

  • Aspekt

    „Viribus unitis“ oder Völkerkerker?

    Der Vielvölkerstaat Österreich-Ungarn bildete einen mehr oder weniger stabilen Rahmen für die Koexistenz einer Vielzahl nationaler Gemeinschaften.

    Die viel beschworene „Einheit in der Vielfalt“ wurde in der Realität von zahlreichen Ungleichheiten überschattet. Dies zeigte sich vor allem im unterschiedlichen Ausmaß, in dem einzelne Sprachgruppen an der politischen und ökonomischen Macht beteiligt waren.

Entwicklungen

  • Entwicklung

    Nationalitätenpolitik im Vielvölkerreich

    Am Beginn des Zeitalters der Nationswerdung diente das Reich der Habsburger als Treibhaus für die Entwicklung nationaler Konzepte für die Völker Zentraleuropas.  Später wurde der staatliche Rahmen der Doppelmonarchie jedoch immer öfter als Hindernis für eine vollkommene nationale Entfaltung gesehen.