Auf der Suche nach dem Vaterland: Die deutsche Nationswerdung

Als 1806 das Heilige Römische Reich von seinem letzten Herrscher Kaiser Franz II. für aufgelöst erklärt wurde, war den Deutschen eine wichtige symbolische Klammer verloren gegangen.

Auf staatlich-politischer Ebene war das Siedlungsgebiet der Deutschen nach dem Ende des Alten Reiches in eine Vielzahl von Klein- und Mittelstaaten zersplittert. Die führenden Mächte waren Preußen und Österreich, die jedoch beide territorial auch außerhalb des Reiches engagiert waren, wobei vor allem Österreich stark durch andere Ethnien geprägt war. Die beiden führenden deutschen Staaten sahen sich daher nicht als deutsche Nationalstaaten, sondern als dynastische Monarchien.

Eine Art Vorform eines deutschen Nationalbewusstseins existierte damals nur auf symbolischer Ebene. Das Bewusstsein der gemeinsamen Sprache bildete den Grundstein für ein vages Zusammengehörigkeitsgefühl, das oft nur eine zweite, die stark ausgeprägten regionalen Landesidentitäten überlagernde Haltung bildete. Die Tatsache der ausfransenden deutschen Siedlungsgebiete v. a. im Osten machte eine territoriale Vereinigung unmöglich. Somit war das Konzept einer deutschen „Kulturnation“ im Frühstadium von der territorialen Sichtweise getrennt – die deutsche Nation wäre demnach überall dort zu finden, „wo die deutsche Zunge klingt“ (Humboldt).

Die deutsche Schriftsprache und literarische Kultur waren vergleichsweise hoch entwickelt und das Primat des Deutschen auch in mehrheitlich anderssprachigen Gebieten Zentraleuropas noch unangefochten. Daher musste die deutsche Sprachnation anders als die übrigen zentraleuropäischen Sprachnationen keine kulturelle Wiedergeburt oder sprachlichen Erweckungsprozess durchlaufen.

Der Reibebaum der deutschen Nationswerdung wurde Frankreich. Zunächst als Reaktion auf den französischen Anspruch der kulturellen Hegemonie über Europa im 17. und 18. Jahrhundert entstanden, verwandelte sich die antifranzösische Haltung später in eine Befreiungsideologie gegen die drückende Übermacht Napoleons.

Die Geburt der deutschen Nation im modernen Sinn fand zur Zeit des Wiener Kongresses (1814/15) statt, dessen Resultat die Gründung des Deutschen Bundes war – ein hybrider Staatenbund mit der langfristigen Perspektive einer Umwandlung zu einem Bundesstaat. Dahinter stand der Gedanke an eine Anknüpfung an das untergegangene Heilige Römische Reich, das nun in national-romantischer Sichtweise als mittelalterlicher Vorläufer eines deutschen Nationalstaates verherrlicht wurde. Damals kam es auch zu einer Wandlung des Begriffes „Deutsch“ von einer historisch-politischen zu einer völkisch-nationalen Bedeutung.

Im 1817 stattfindenden Wartburgfest fand die deutsche Nationalbewegung ihren ersten Bezugspunkt. Es handelte sich dabei um ein Treffen studentischer Burschenschaften, welche die Forderung nach Liberalismus und politischen Freiheiten mit dem Ruf nach nationaler Einigung verbanden. Extremismus und politische Gewalt wurden dabei als äußerste Mittel für die Durchsetzung des „hehren Ideals“ anerkannt.

In dieser Zeit kamen auch die Symbole auf, die sich zu Versatzstücken der deutschnationalen Bewegung werden sollten. Die „Wacht am Rhein“ wurde die inoffizielle Hymne der Vereinigungsbewegung, deren Vertreter sich mit den Farben Schwarz-Rot-Gold schmückten: Die deutsche Trikolore leitete sich von den Uniformfarben der Lützow’ schen Freiwilligen ab, die während der napoleonischen Kriege gegen die französische Okkupation gekämpft hatten.

Bibliografie 

Doering-Manteuffel, Anselm: Die deutsche Frage und das europäische Staatensystem 1815 bis 1871 (Enzyklopädie deutscher Geschichte 15), München 1993

Rumpler, Helmut: Eine Chance für Mitteleuropa. Bürgerliche Emanzipation und Staatsverfall in der Habsburgermonarchie [Österreichische Geschichte 1804–1914, hrsg. von Herwig Wolfram], Wien 2005

Inhalte mit Bezug zu diesem Kapitel

Aspekt

  • Aspekt

    „Viribus unitis“ oder Völkerkerker?

    Der Vielvölkerstaat Österreich-Ungarn bildete einen mehr oder weniger stabilen Rahmen für die Koexistenz einer Vielzahl nationaler Gemeinschaften.

    Die viel beschworene „Einheit in der Vielfalt“ wurde in der Realität von zahlreichen Ungleichheiten überschattet. Dies zeigte sich vor allem im unterschiedlichen Ausmaß, in dem einzelne Sprachgruppen an der politischen und ökonomischen Macht beteiligt waren.

Entwicklungen

  • Entwicklung

    Der Weg zur Nation – Nationale Programme und Positionen

    Das ‚Werden der Nationen’ war in Europa Teil des Emanzipationsprozesses breiterer Bevölkerungsschichten aus feudaler Bevormundung. Gemäß den Idealen der Aufklärung und der Französischen Revolution sollte die Nation – nun verstanden als Gemeinschaft freier Bürger – anstelle feudaler Potentaten die Rolle des eigentlichen Souveräns übernehmen.

    Die Idee der Nation wurde als Schicksalsgemeinschaft definiert, die durch gemeinsame Abstammung, Kultur und Sprache verbunden war. Zur Stärkung des Gruppengefühls wurde eine verbindliche Sicht der Geschichte der eigenen Nation geschaffen.