In den 1980er Jahren erlebte der Begriff „Mitteleuropa“ in intellektuellen Kreisen eine Renaissance. In der österreichischen Sichtweise verstand man darunter vor allem die Nachfolgestaaten der alten Monarchie, die manche idyllisierend als einträchtiges Völkergemisch sahen. Dies war jedoch nicht immer so: Um 1900 war das Konzept Mitteleuropa ganz anders ausgerichtet.

Bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts sah die europäische Großmachtpolitik in Mitteleuropa ein Gegengewicht zu den Machtblöcken Frankreich und Russland. Vor allem in liberalen Wiener Kreisen war dieses Mitteleuropa-Konzept eine beliebte Alternative zur großdeutschen Lösung, die auf eine Spaltung der Habsburgermonarchie hinausgelaufen wäre. Die deutschen Fürstentümer würden demnach zusammen mit dem Reich der Habsburger ein ethnisch buntes „70-Millionen-Reich“ bilden, wobei die Führungsrolle über die diesen Zwischenraum bevölkernden kleinen Nationen gleichsam naturgegeben an die Deutschen fallen würde. Daraus sprach ein gewisser deutscher Kulturchauvinismus, der den Kleinvölkern eine selbststständige Zivilisation aberkannte: Der zivilisatorische Fortschritt sei demnach nur der deutschen Vermittlung zu verdanken. Diese kulturkolonialistische Haltung gegenüber kleineren Völkern provozierte bei diesen verständlicherweise eine entschiedene Abwehr.

Auf die erstarkende Emanzipation der nicht-deutschen Nationalitäten der Monarchie ab der Mitte des 19. Jahrhunderts reagierten die national gesinnten deutschen Eliten mit der Forderung nach einer Stärkung des deutschen Charakters der Monarchie bzw. nach 1867 der cisleithanischen Länder, wo das Primat der deutschen Sprache und Kultur erhalten und Deutsch als offizielle Staatssprache eingeführt werden sollte.

Auch in Berlin verfolgte man eine ähnliche Politik. Das deutsche Konzept für Mitteleuropa betonte vor allem ökonomische Initiativen wie eine Zollunion, bei der Deutschland als dem größeren und wirtschaftlich potenteren Part die Führungsrolle zugekommen wäre. Österreich-Ungarn sollte dabei die Rolle einer Brücke zum Balkanraum zufallen, der quasi kolonialistisch zu erschließen sei. In dieser Vorstellung bildete Österreich, bei Verstärkung des deutschen Charakters, einen Annex Deutschlands – in diesem Zusammenhang wurde auch der Begriff „Ostmark“ verwendet. Das rechte Spektrum der deutschen Politik verstand darunter auch eine Unterwerfung und Germanisierung der kleineren Nationen Zentraleuropas. Der Ausbruch des Ersten Weltkrieges wurde hier als Chance zur Verwirklichung dieser Pläne gesehen.

Diese Einstellung herrschte auch unter den deutschnationalen Kreisen in der Habsburgermonarchie. In einem Grundsatzpapier („Osterbegehrschrift“) formulierte der Deutsche Nationalverband 1915 die Forderungen: Die nationalen Rechte der nicht-deutschen Nationalitäten sollten beschnitten und das deutsch-österreichische Bündnis in die Verfassung aufgenommen werden. Nach erfolgreichem Kriegsende wäre dann der Weg frei für eine völlige Neuorganisation der Monarchie. Der Dualismus sollte zu einer bloßen Personalunion mit Ungarn aufgeweicht, und die nicht deutschsprachigen Kronländer wie Galizien und Dalmatien abgetreten oder zu autonomen Teilstaaten werden, vergleichbar mit dem Status, den Kroatien innerhalb Ungarns hatte. Als Resultat erwartete man eine Konzentration auf die „deutschen“ Alpen- und Sudetenländer und eine forcierte Germanisierungspolitik gegenüber Tschechen und Slowenen.

Diese radikalen Forderungen wurden zwar von den gemäßigten Kräften abgelehnt, blieben aber nicht gänzlich ohne Reaktion. Eine Stärkung des deutschen Elements war denn auch im Sinne der cisleithanischen Regierung. Noch im April 1917 wollte Ministerpräsident Clam-Martinic die bestehende Ausschaltung des Reichsrates nützen, um Fakten zu schaffen: Geplant war die Einführung des Deutschen als einzige Amtssprache in der österreichischen Reichshälfte und eine Autonomie für Galizien, was den deutschen Charakter der übrigen Teile Österreichs gestärkt hätte. Für die böhmischen Länder war eine Neueinteilung der Verwaltungsbezirke nach klaren ethnischen Mehrheiten geplant.

Diese massiven Einschnitte in die Struktur des Habsburgerreiches wurden von Kaiser Karl abgelehnt, der als Ausweg die Wiedereinberufung des Reichsrates verfügte, wodurch auch die nicht-deutschen Nationalitäten wieder eine Stimme erhielten – diese sprach sich aber nun nicht mehr für eine Existenz unter dem Doppeladler aus.

Bibliografie 

Kapp, Richard W.: Bethmann-Hollweg, Austria-Hungary and Mitteleuropa 1914–1915, in: Austrian History Yearbook, Bd. 19, 1983, 215–236

Křen, Jan: Dvě století střední Evropy [Zwei Jahrhunderte Mitteleuropas], Praha 2005

Rauchensteiner, Manfried: Der Erste Weltkrieg und das Ende der Habsburgermonarchie 1914–1918, Wien u. a. 2013

Rumpler, Helmut: Eine Chance für Mitteleuropa. Bürgerliche Emanzipation und Staatsverfall in der Habsburgermonarchie [Österreichische Geschichte 1804–1914, hrsg. von Herwig Wolfram], Wien 2005

Inhalte mit Bezug zu diesem Kapitel

Aspekt

Entwicklungen

  • Entwicklung

    Nationale Standpunkte zum Krieg

    Die Habsburgermonarchie als staatlicher Rahmen für die kleineren Nationalitäten Zentraleuropas wurde bis 1914 kaum ernsthaft in Frage gestellt, weder von innen noch von außen. Bei Ausbruch des Krieges betonten die Vertreter der Nationalitäten zunächst ihre Loyalität zu den Kriegszielen der Habsburgermonarchie.

  • Entwicklung

    Der Weg zur Nation – Nationale Programme und Positionen

    Das ‚Werden der Nationen’ war in Europa Teil des Emanzipationsprozesses breiterer Bevölkerungsschichten aus feudaler Bevormundung. Gemäß den Idealen der Aufklärung und der Französischen Revolution sollte die Nation – nun verstanden als Gemeinschaft freier Bürger – anstelle feudaler Potentaten die Rolle des eigentlichen Souveräns übernehmen.

    Die Idee der Nation wurde als Schicksalsgemeinschaft definiert, die durch gemeinsame Abstammung, Kultur und Sprache verbunden war. Zur Stärkung des Gruppengefühls wurde eine verbindliche Sicht der Geschichte der eigenen Nation geschaffen.