Der Austroslawismus als ideologisches Programm der Slawen unter habsburgischer Herrschaft sah im österreichischen Kaiserstaat den optimalen politischen Rahmen für die Existenz der slawischen Völker Zentraleuropas. Gefordert wurden eine Umformung der Monarchie in ein föderalistisches Staatsgebilde und die Gleichberechtigung der österreichischen Slawen, um deren freie Entfaltung zu gewährleisten.

„Wahrlich! Existierte der österreichische Kaiserstaat nicht schon längst, man müsste im Interesse Europa’s, im Interesse der Humanität selbst sich beeilen, ihn zu schaffen.“

Der tschechische Historiker und Vaterfigur der tschechischen nationalen „Wiedergeburt“ im 19. Jahrhundert, František Palacký (1798–1876), legte in seinem Absagebrief an die Frankfurter Nationalversammlung 1848 ein Bekenntnis zum Austroslawismus ab.

František Palackýs Bekenntnis zum Austroslawismus

Der Gedanke entwickelte sich um 1800 unter den nationalen Erweckern der slawischen Kleinvölker Zentraleuropas. Als Pionier gilt Jernej Kopitar (1780–1844), ein slowenisch-stämmiger Gelehrter aus Krain, dessen Wirkungsstätte Wien war, wo er zunächst als Zensor in der Polizeihofstelle, später als Leiter der Handschriftenabteilung der Wiener Hofbibliothek wirkte. Unter anderem war er ein hervorragender Philologe und schuf die erste moderne Grammatik des Slowenischen (Grammatik der slawischen Sprache in Krain, Kärnten und Steiermark, 1808).

Kopitar scharte eine Gelehrtenrunde aus verschiedenen nationalen Lagern um sich, um den Austausch der neuen nationalen Ideen zu beflügeln. Er selbst verstand sich als Slawe und rief Wien zum natürlichen Zentrum und Kristallisationspunkt der Slawen Zentraleuropas aus – hier sollten die wichtigsten Institutionen für die slawische Erneuerung entstehen.

Der Austroslawismus sah in der Habsburgermonarchie die Hüterin der slawischen Völker. Nur im Rahmenwerk des multiethnischen Kaiserstaates könnten die slawischen Kleinvölker Schutz vor deutschen Hegemoniebestrebungen finden und sich auf kulturellem und politischem Gebiet entfalten. Der Austroslawismus lehnte aber auch den auf das orthodoxe Russland fokussierten Panslawismus ab und betonte die westliche, katholische Ausrichtung der zentraleuropäischen Slawen. Zur Abkehr vom russophilen Panslawismus trugen auch die reaktionären und repressiven Maßnahmen des zaristischen Regimes gegen den polnischen Aufstand 1830 bei.

Auch der Tscheche Karel Havlíček Borovský (1821–1856) forderte eine Abkehr vom romantischen Panslawismus und von der nationalen Schwärmerei. Die Zukunft der Slawen lag seiner Meinung nach in der modernen politischen Emanzipation. Havlíček wurde zum Kopf der tschechischen Repeal-Bewegung, die am irischen Unabhängigkeitskampf gegen die Briten Anleihen nahm. Die Hauptforderung war die Stärkung der politischen Repräsentation der Tschechen und generell der Slawen entsprechend ihrem Bevölkerungsanteil. Das langfristige Ziel war die Slawisierung der Habsburgermonarchie zulasten der Deutschen und Magyaren.

Zum Zeitpunkt der Revolution von 1848 waren die politischen Eliten der österreichischen Slawen zwischen einem undefinierten Bewusstsein einer allslawischen Verwandtschaft und sich immer schärfer abzeichnenden nationalen Programmen hin- und hergerissen. Vereint waren sie vor allem in der Forderung nach einem liberalen Konstitutionalismus im Rahmenwerk der Habsburgermonarchie.

Am Kremsierer Reichstag, wohin sich der konstituierende Reichstag im Herbst 1848 zur Ausarbeitung einer Verfassung für das Habsburgerreich geflüchtet hatte, bildeten die österreichischen Slawen einen eigenen Klub, vertraten jedoch unterschiedliche Programme und Anliegen. Es wurden eigene Vorschläge zur Reorganisation der Habsburgermonarchie auf der Grundlage eines föderalistischen Nationalitätenstaates entwickelt, die jedoch nach der gewaltsamen Auflösung des Reichstages durch das absolutistische Regime des jungen Kaisers Franz Joseph nicht weiter verfolgt wurden.

Die Absage der Teilnahme am Frankfurter Parlament 1848 und der damit verbundene „Austritt aus der deutschen Geschichte“ durch den Tschechen František Palacký (1798–1876) war die „Geburtsurkunde“ des politischen Austroslawismus. Palacký erteilte auch einer slawischen Einigung auf russische Initiative eine Absage und legte ein Bekenntnis zur Habsburgermonarchie ab. Dieses verband er jedoch mit der Forderung nach grundlegenden Reformen, was eine akzeptable Kompromissformulierung für das konservative (Adel und Klerus) und liberale Lager (Intellektuelle und das entstehende Wirtschaftsbürgertum) unter den Slawophilen darstellte.

Neben dem liberal-demokratischen Austroslawismus, wie er von den tschechischen politischen Führern vertreten wurde, existierte auch eine feudale Richtung, die ihre Anhänger in klerikalen und aristokratischen Kreisen fand. Diese Richtung hatte im Neoabsolutismus nach 1848 größere Chancen für eine Realisierung ihrer Forderungen, die sich auf Zugeständnisse im Bereich des nationalen Schulwesens und der Sprachpolitik beschränkten.

Die liberale Ära nach 1861 und die damit einhergehende deutsch-zentralistische Ausrichtung zerstörten die Hoffnung der österreichischen Slawen auf Gleichstellung. Der Österreichisch-Ungarische Ausgleich von 1867, bei dem sich vor allem die Tschechen übergangen fühlten, brachte schließlich das Ende des politischen Austroslawismus.  

Die Forderung nach einer föderalistischen Umformung der Monarchie im austroslawischen Sinn blieb zwar weiterhin der „kleinste gemeinsame Nenner“ der österreichischen Slawen. In der politischen Realität war jedoch von einem gemeinsamen Vorgehen der slawischen Nationalitäten wenig zu spüren. Zu verschiedenartig waren die Problemstellungen und die Vorstellungen von der nationalen Zukunft. Die „slawische Einheitsfront“ war eher ein Hirngespinst der Deutschnationalen und radikalen Magyaren als eine reale politische Größe.

Bibliografie 

Křen, Jan: Dvě století střední Evropy [Zwei Jahrhunderte Mitteleuropas], Praha 2005

Moritsch, Andreas (Hrsg.): Der Austroslavismus. Ein verfrühtes Konzept zur politischen Neugestaltung Mitteleuropas [Schriftenreihe des Internationalen Zentrums für Europäische Nationalismus- und Minderheitenforschung 1], Wien 1996 

Inhalte mit Bezug zu diesem Kapitel

Aspekt

  • Aspekt

    „Viribus unitis“ oder Völkerkerker?

    Der Vielvölkerstaat Österreich-Ungarn bildete einen mehr oder weniger stabilen Rahmen für die Koexistenz einer Vielzahl nationaler Gemeinschaften.

    Die viel beschworene „Einheit in der Vielfalt“ wurde in der Realität von zahlreichen Ungleichheiten überschattet. Dies zeigte sich vor allem im unterschiedlichen Ausmaß, in dem einzelne Sprachgruppen an der politischen und ökonomischen Macht beteiligt waren.

Personen, Objekte & Ereignisse

  • Ereignis

    Revolution 1848

    Studenten fordern die Freiheit für Presse und Lehre. Arbeiter protestieren gegen die unhaltbaren Zustände. Es beginnt eine Reihe von Aufständen gegen das Regime Metternich, die zahlreiche Opfer fordern.

Entwicklungen

  • Entwicklung

    Der Weg zur Nation – Nationale Programme und Positionen

    Das ‚Werden der Nationen’ war in Europa Teil des Emanzipationsprozesses breiterer Bevölkerungsschichten aus feudaler Bevormundung. Gemäß den Idealen der Aufklärung und der Französischen Revolution sollte die Nation – nun verstanden als Gemeinschaft freier Bürger – anstelle feudaler Potentaten die Rolle des eigentlichen Souveräns übernehmen.

    Die Idee der Nation wurde als Schicksalsgemeinschaft definiert, die durch gemeinsame Abstammung, Kultur und Sprache verbunden war. Zur Stärkung des Gruppengefühls wurde eine verbindliche Sicht der Geschichte der eigenen Nation geschaffen.