Vom Illyrismus zum Jugoslawismus: Konkurrierende Konzepte einer „südslawischen Nation“

Vom Grundgedanken einer sprachlichen Einheit der Südslawen ausgehend, entwickelten sich Ideologien zur nationalen Einigung. Umstritten war, ob die Führungsrolle dabei den Serben oder den Kroaten zufallen sollte. Auch die Frage der Einbindung der Slowenen war ungelöst.

Im Zeitalter des Erwachens der Völker entstand in gelehrten Kreisen die Idee, die zahlreichen, untereinander schwer abzugrenzenden slawischen Dialekte am Westbalkan zu einer gemeinsamen Hochsprache zusammenzuführen. Das Fernziel war die Schaffung einer südslawischen, im Zeitgeist antikisierend als illyrisch bezeichneten Nation. Die kulturellen und konfessionellen Unterschiede sollten überwunden werden, obwohl die historisch-kulturelle Entwicklung bei den südslawischen Völkerschaften sehr unterschiedlich verlaufen war.

Die bis dahin nur in Gelehrtenkreisen diskutierte Idee des Illyrismus fand ihre politische Initialzündung durch die Umgestaltung Europas durch Napoleon. Die historischen Landesgrenzen ignorierend, wurden erstmals Krain, Görz, Triest, Teile Kärntens und Kroatiens zu einer staatlichen Einheit, den Illyrischen Provinzen, zusammengefasst.

Trotz der kurzen Dauer dieses napoleonischen Territoriums – die Illyrischen Provinzen existierten nur von 1809 bis 1813 – blieb die Idee weiter latent vorhanden. Im Gedankengebäude des Illyrismus sahen sich vor allem die Kroaten als tragendes Element, da sie auf eine staatliche Geschichte zurückblicken konnten. Das erträumte „Großkroatien“ sollte unter der Bezeichnung Königreich Illyrien neben Kroatien, Slawonien und Dalmatien auch Bosnien, Istrien und die slowenischen Gebiete (die Slowenen wurden in kroatischer Lesart als Bergkroaten bezeichnet) umfassen. Die Schaffung Illyriens innerhalb einer föderalisierten Habsburgermonarchie war 1848 eine Hauptforderung der Kroaten. Nach der Niederschlagung der Revolution blieb dies jedoch eine bloße Utopie.  

Ab der Mitte des 19. Jahrhunderts entwickelte sich die Ideologie des Jugoslawismus, dessen langfristiges Ziel die Verschmelzung der verschiedenen „Zweige der südslawischen Nation“ war. Die Idee manifestierte sich zunächst nur auf kulturellem Gebiet. 1850 wurde im „Wiener Abkommen“ zwischen kroatischen, serbischen und slowenischen Intellektuellen eine Absichtserklärung erarbeitet, wonach das Ziel der Sprachentwicklung eine Angleichung der südslawischen Sprachen zu einer einheitlichen serbo-kroatischen Norm sein sollte.

Die bisherige kroatische Führerschaft unter den Südslawen verschob sich nun zunehmend zugunsten der Serben. Diese verdankten ihr neues Selbstbewusstsein dem Aufstieg Serbiens, das sich nach der 1878 erlangten Unabhängigkeit vom Osmanischen Reich als eine wichtige regionale Kraft am Westbalkan etablieren konnte. In der Folge wurde der Jugoslawismus in der serbischen Auslegung immer stärker in Richtung Großserbien interpretiert.

Die Konkurrenz zwischen Kroaten und Serben ließ den Einigungsprozess erlahmen. Kulturelle Differenzen machten sich bemerkbar: Der Katholizismus blieb für slowenische und kroatische konservative Nationalisten identitätsstiftend, wodurch sie mit den christlich-orthodoxen Traditionen der Serben in Konflikt gerieten. Eine Renaissance erlebte der Jugoslawismus erst wieder um 1900, als sich ein Generationswechsel anbahnte. Junge, liberal-freisinnige Gruppierungen sahen in Glaubensfragen kein Hindernis mehr. Auch war der neue „völkische“ Nationalismus radikaler, und ein militanter Extremismus machte sich im studentischen Milieu breit.

1905 schlossen sich serbische und kroatische Parlamentarier verschiedener Parteien beider Reichshälften zur „Kroatisch-serbischen Koalition“ zusammen. Im Sinne eines nationalen Interessenabgleichs angesichts der Aussichtslosigkeit der südslawischen Positionen in Cis- wie in Transleithanien war das Ziel die Beilegung der alten Rivalitäten zwischen Kroaten und Serben. Als Reaktion auf den deutschnationalen Zentralismus in Cisleithanien (betraf die Slowenen) und auf die kompromisslose Magyarisierungspolitik in Ungarn (betraf Kroaten und Serben) fand die jugoslawische Idee auch in den eher gemäßigten Kreisen des politischen Mainstreams in Zagreb und Ljubljana vermehrt Anhänger. Die Idee einer völligen Loslösung von der immer stärker als Fessel verstandenen Habsburgermonarchie reifte heran. Der Jugoslawismus hatte sich von einer kulturellen Idee zu einer staatlichen Einigungsbewegung gewandelt.

Bibliografie 

Hösch, Edgar: Geschichte der Balkanländer. Von der Frühzeit bis zur Gegenwart, München 1999

Rumpler, Helmut: Eine Chance für Mitteleuropa. Bürgerliche Emanzipation und Staatsverfall in der Habsburgermonarchie [Österreichische Geschichte 1804–1914, hrsg. von Herwig Wolfram], Wien 2005

Štih, Peter/Simoniti, Vasko/Vodopivec, Peter: Slowenische Geschichte. Gesellschaft – Politik – Kultur, Graz 2008

Suppan, Arnold: Die Kroaten, in: Wandruszka, Adam/Urbanitsch, Peter (Hrsg.): Die Habsburgermonarchie 1848–1918, Band III: Die Völker des Reiches, Wien 1980, Teilband 1, 626–733

Inhalte mit Bezug zu diesem Kapitel

Aspekt

  • Aspekt

    „Viribus unitis“ oder Völkerkerker?

    Der Vielvölkerstaat Österreich-Ungarn bildete einen mehr oder weniger stabilen Rahmen für die Koexistenz einer Vielzahl nationaler Gemeinschaften.

    Die viel beschworene „Einheit in der Vielfalt“ wurde in der Realität von zahlreichen Ungleichheiten überschattet. Dies zeigte sich vor allem im unterschiedlichen Ausmaß, in dem einzelne Sprachgruppen an der politischen und ökonomischen Macht beteiligt waren.

Entwicklungen

  • Entwicklung

    Der Weg zur Nation – Nationale Programme und Positionen

    Das ‚Werden der Nationen’ war in Europa Teil des Emanzipationsprozesses breiterer Bevölkerungsschichten aus feudaler Bevormundung. Gemäß den Idealen der Aufklärung und der Französischen Revolution sollte die Nation – nun verstanden als Gemeinschaft freier Bürger – anstelle feudaler Potentaten die Rolle des eigentlichen Souveräns übernehmen.

    Die Idee der Nation wurde als Schicksalsgemeinschaft definiert, die durch gemeinsame Abstammung, Kultur und Sprache verbunden war. Zur Stärkung des Gruppengefühls wurde eine verbindliche Sicht der Geschichte der eigenen Nation geschaffen.