Scharia unter dem Doppeladler: Österreich-Ungarn und die bosnischen Muslime
Die Versuche, in Bosnien die Verwaltung, das Schulwesen und die Justiz an die Strukturen der übrigen Reichsteile anzugleichen, bieten interessante Beispiele für das Integrationspotenzial der Habsburgermonarchie.
Der Aufbau einer administrativen Struktur analog zu den anderen Ländern des Reiches beschränkte sich jedoch nicht nur auf staatliche Behörden, sondern erstreckte sich auch auf die Organisation religiöser Gemeinschaften. So wurde das katholische Pfarr- und Bistumsnetz reorganisiert und ein Erzbistum mit Sitz in Sarajewo für die dortigen Katholiken geschaffen. Etwas komplizierter war die Situation für die christlich-orthodoxe Bevölkerung. Um den Drang der bosnischen Serben nach der Vereinigung mit dem serbischen Mutterland nicht noch zu verstärken, wurde in Einvernehmen mit dem orthodoxen Patriarchen von Konstantinopel in Bosnien eine eigenständige orthodoxe Kirchenstruktur geschaffen, die institutionell von der serbischen getrennt blieb.
Mit völlig neuen Gegebenheiten waren die österreichischen Behörden bei den bosnischen Muslimen konfrontiert. Es existierten keine hierarchisch strukturierte Geistlichkeit und kein Oberhaupt im westlichen Sinn. Die Autoritäten waren lokale Muftis, die vom Sultan mit der Ausübung der Rechtssprechung und der Organisation des geistlichen Lebens betraut waren. Diese Vermischung von weltlicher und geistlicher Macht ohne klare Strukturen war für die k. u. k. Behörden nicht akzeptabel. Es wurde daher der Versuch unternommen, eine muslimische Gemeindestruktur im Sinne einer „Nationalkirche“ für die bosnischen Muslime unter österreichischer Aufsicht zu schaffen. Der Hintergedanke war die Ausschaltung der Autorität des Sultans, der bis dahin das traditionelle Oberhaupt der lokalen Muslime nicht nur in staatlicher Hinsicht, sondern auch in religiösen Belangen gewesen war. Die k. u. k. Behörden verhinderten die Einflussnahme des Sultans auf die Ernennung lokaler Würdenträger: 1881 wurde festgelegt, dass nun nicht mehr der Sultan, sondern die jeweiligen lokalen Eliten ihren Mufti selbst bestimmen sollten.
1882 wurde der bisherige Mufti von Sarajewo, Hilmi Hadžiomerović, zum Mufti von ganz Bosnien ernannt und bekam auch die Kontrolle über das Scharia-Gericht zugesprochen. Dieses Gericht sollte in Zukunft auf Initiative der k. u. k. Behörden von einem vierköpfigen Rat – ähnlich einer bischöflichen Synode – geführt werden. Hadžiomerović reiste 1882 sogar nach Wien, um sich für seine Ernennung beim Kaiser zu bedanken: Die Audienz eines muslimischen Geistlichen war eine Premiere am Wiener Hof.
1909 wurde den muslimischen Gemeinden die Autonomie im Bereich der Finanzverwaltung und der Organisation von Bildungseinrichtungen und religiöser Institute eingeräumt. Die Struktur der islamischen Gemeinden wurde nach dem Vorbild der christlichen Bistums- und Pfarrorganisation geschaffen.
Auf dem Gebiet der Rechtssprechung wurde auf die spezifischen Gegebenheiten Rücksicht genommen: Als Bürger der Habsburgermonarchie waren die bosnischen Muslime zwar dem österreichisch-ungarischen Zivilrecht unterworfen, jedoch blieben bei Fragen des Familien- und Erbrechts weiterhin die Traditionen der Scharia bestehen. Die muslimischen Rechtsgelehrten wurden nicht nur von der k. u. k. Landesverwaltung ernannt und bezahlt, sondern auch zur Kooperation mit der Zivilgerichtsbarkeit angehalten, auch was die Prozessführung betraf. Um die Ausbildung in beiderlei Rechtstraditionen zu gewährleisten, wurde 1887 in Sarajewo eine staatliche islamische Rechtsschule eingerichtet. Der historisierende Prachtbau im neomaurischen Stil ist heute Sitz der Fakultät für islamisches Recht der Universität von Sarajewo.
Buchmann, Bertrand Michael: Österreich und das Osmanische Reich. Eine bilaterale Geschichte, Wien 1999
Džaja, Srećko: Bosnien-Herzegowina in der österreichisch-ungarischen Epoche (1878–1918) (Südosteuropäische Arbeiten 93), München 1994
Hösch, Edgar: Geschichte der Balkanländer. Von der Frühzeit bis zur Gegenwart, München 1999
Rumpler, Helmut: Eine Chance für Mitteleuropa. Bürgerliche Emanzipation und Staatsverfall in der Habsburgermonarchie [Österreichische Geschichte 1804–1914, hrsg. von Herwig Wolfram], Wien 2005
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Kapitel
- Die Kroaten in der Habsburgermonarchie
- Getreue Rebellen: Die Rolle der Kroaten während der Revolution 1848
- Die Frage der Autonomie: Die Kroaten als Spielball zwischen Wien und Budapest
- Die Serben in der Habsburgermonarchie
- Serben alle und überall: Das nationale Programm der Serben
- Die Bosniaken in der Habsburgermonarchie
- Scharia unter dem Doppeladler: Österreich-Ungarn und die bosnischen Muslime
- Vom Illyrismus zum Jugoslawismus: Konkurrierende Konzepte einer „südslawischen Nation“
- Freund oder Feind? Die Positionen der Südslawen im Ersten Weltkrieg