Serben alle und überall: Das nationale Programm der Serben

Die Wiege des modernen Serbentums stand bezeichnenderweise in Wien und Pest, wo kleine, aber wohlhabende und politisch einflussreiche serbische Gemeinden in der Diaspora lebten und die serbische Intelligenz Einflüsse aus Westeuropa aufnehmen konnte.

So veröffentlichte der serbische Sprachreformer Vuk Stefanović Karadžić (1787–1864) die erste moderne Grammatik des Serbischen (Pismenica srpskoga jezika, 1814) und seine Sammlungen serbischer Volkslieder in Wien. Die Gedicht- und Volksliedsammlungen fanden großes Echo in Westeuropa, wo die emanzipatorischen Bemühungen als Ausdruck des Freiheitskampfes gegen die Türken mit Sympathie verfolgt wurden. Ganz im Sinne der Romantik entstand so das weit verbreitete Bild der Serben als kämpferisches Volk von Hirten und Kriegern.

Ebenfalls am Beginn des serbischen Kulturnationalismus steht die 1826 erfolgte Gründung der Matica Srpska, einer serbischen Kulturorganisation und Verlagsgesellschaft im ungarischen Pest (1864 nach Novi Sad verlegt).

Die Rolle Karadžićs für die serbische „nationale Wiedergeburt“ war bedeutend. Er vollzog die Abkehr von der serbischen Variante der altkirchenslawischen Liturgiesprache, die bisher als Schrift- und Hochsprache galt, aber nur von Klerikern verstanden wurde. Er propagierte die Hinwendung zur gesprochenen Volkssprache. Seine Grammatik, gefolgt von einem Wörterbuch, machte ihn zum Schöpfer der modernen serbischen Literatursprache. Karadžić wählte die am weitesten verbreitete štokavische Variante des serbokroatischen Sprachbundes als Basis für seine Sprachreform. Diese Dialektvariante wurde auch von den Kroaten in Slawonien, in Bosnien und im dalmatinischen Hinterland gesprochen. Gemäß seiner Devise „Srbi svi i svuda“ (Serben sind sie alle und überall) implizierte die Sprachreform Karadžićs die Einverleibung dieser Dialektsprecher in den imaginierten „großserbischen Kulturraum“. Der serbische Anspruch auf die Führungsrolle am Westbalkan war somit auch linguistisch untermauert.

Die kleineren Volksgruppen der Region, wie die muslimischen Bosniaken, aber auch die Kroaten, standen den serbischen Vereinnahmungsversuchen skeptisch gegenüber. Die Kroaten versuchten ja ihrerseits, im Sinne des Illyrismus ein „Großkroatien“ zu schaffen und sahen sich selbst in der Führungsrolle.

Der kulturelle Führungsanspruch der Serben wurde bald auch in die politischen Programme aufgenommen. Die Streitschrift Načertanije (Ein Entwurf, 1844) des späteren serbischen Innenministers Ilija Garašanin (1821–1875) war die erste offizielle Formulierung des großserbischen Programms, wonach es die historische Aufgabe der Serben wäre, die slawischen Balkanvölker zu einigen. Garašanin nannte hier auch erstmals die Großmachtambitionen der Habsburgermonarchie am Balkan als stärksten Feind großserbischer Interessen. In Wien wurde diese Entwicklung lange unterschätzt, denn man vertraute auf die traditionelle pro-österreichische Einstellung der Serben in der Militärgrenze und der Vojvodina.

Zunächst schien die Loyalität der ungarischen Serben zur habsburgischen Dynastie während der Revolution 1848, als sich die Mehrheit der Serben als Reaktion auf die ungarische Ablehnung der nationalen Rechte der Nicht-Magyaren unter den Schutz Wiens gestellt hatten, auch belohnt zu werden: Die Serben erreichten die Abtrennung der Vojvodina von Ungarn – ein eigenständiges Kronland „Vojvodschaft Serbien und Temeser Banat“ war entstanden.

Doch der Erfolg währte nur kurz. 1860 wurde die Vojvodina wieder in das Königreich Ungarn eingliedert. Auch die 1881 abgeschlossene Auflösung der Militärgrenze führte dazu, dass der Großteil der serbischen Siedlungsgebiete nun unter ungarische bzw. kroatische Verwaltung geriet und die Serben nur den Status einer ethnisch-konfessionellen Minderheit zugesprochen bekamen.

Die Enttäuschung über die Wiener Haltung verstärkte sich durch die Politik Kaiser Franz Josephs gegenüber dem jungen Balkanstaat Serbien vor dem Hintergrund der russisch- österreichischen Rivalität am Balkan. Während Russland den Befreiungskampf der slawischen Balkanvölker kompromisslos unterstützte, wollte Wien den Status quo bewahren, um sich in Gestalt des Osmanischen Reiches einen Puffer gegen russische Expansionsgelüste zu bewahren.

All dies hatte zur Folge, dass sich die Serben in der Habsburgermonarchie immer stärker politisch nach Serbien orientierten, das sich im Laufe des 19. Jahrhunderts zu einer nicht zu unterschätzenden Regionalmacht entwickelt hatte. Waren die ungarischen Serben in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts noch die Hauptträger der serbischen kulturellen Wiedergeburt, galten sie um 1900 im Sinne eines serbischen Irredentismus als „unerlöste Brüder“ unter dem „magyarischen Joch“. Belgrad war zum Zentrum der serbischen Nation geworden.

Bibliografie 

Djordjević, Dimitri: Die Serben, in: Wandruszka, Adam/Urbanitsch, Peter (Hrsg.): Die Habsburgermonarchie 1848–1918, Band III: Die Völker des Reiches, Wien 1980, Teilband 1, 734–774

Hösch, Edgar: Geschichte der Balkanländer. Von der Frühzeit bis zur Gegenwart, München 1999

Rumpler, Helmut: Eine Chance für Mitteleuropa. Bürgerliche Emanzipation und Staatsverfall in der Habsburgermonarchie [Österreichische Geschichte 1804–1914, hrsg. von Herwig Wolfram], Wien 2005

Inhalte mit Bezug zu diesem Kapitel

Aspekt

  • Aspekt

    „Viribus unitis“ oder Völkerkerker?

    Der Vielvölkerstaat Österreich-Ungarn bildete einen mehr oder weniger stabilen Rahmen für die Koexistenz einer Vielzahl nationaler Gemeinschaften.

    Die viel beschworene „Einheit in der Vielfalt“ wurde in der Realität von zahlreichen Ungleichheiten überschattet. Dies zeigte sich vor allem im unterschiedlichen Ausmaß, in dem einzelne Sprachgruppen an der politischen und ökonomischen Macht beteiligt waren.

Entwicklungen

  • Entwicklung

    Der Weg zur Nation – Nationale Programme und Positionen

    Das ‚Werden der Nationen’ war in Europa Teil des Emanzipationsprozesses breiterer Bevölkerungsschichten aus feudaler Bevormundung. Gemäß den Idealen der Aufklärung und der Französischen Revolution sollte die Nation – nun verstanden als Gemeinschaft freier Bürger – anstelle feudaler Potentaten die Rolle des eigentlichen Souveräns übernehmen.

    Die Idee der Nation wurde als Schicksalsgemeinschaft definiert, die durch gemeinsame Abstammung, Kultur und Sprache verbunden war. Zur Stärkung des Gruppengefühls wurde eine verbindliche Sicht der Geschichte der eigenen Nation geschaffen.