Deutsche Österreicher oder österreichische Deutsche?

Die „österreichische Identität“ der deutschsprachigen BürgerInnen der Habsburgermonarchie war ein schwer greifbares Phänomen und lässt sich am besten als „doppelte Identität“ beschreiben.

Die Entstehung einer österreichischen Identität nahm ihren Anfang in der dynastischen Hausmachtpolitik der Habsburger, die den Komplex der österreichischen Erbländer entstehen ließ. Diese anfänglich eher zufällige Ansammlung von Territorien, die nur an der Spitze durch das gemeinsame Herrscherhaus vereint war, entwickelte sich im Laufe der Jahrhunderte zum Kerngebiet der multiethnischen Habsburgermonarchie.

Seit dem 18. Jahrhundert ist eine eigenständige kulturelle Entwicklung der österreichischen Länder zu verfolgen, die stark beeinflusst wurde von den Vereinheitlichungsbestrebungen unter Maria Theresia und Joseph II., die aus dem heterogenen Reich einen österreichischen Gesamtstaat schaffen wollten. In diesem Prozess hatte der enge Kontakt der deutschen Sprachgruppe mit anderen Ethnien des Vielvölkerreiches der Habsburger großen Einfluss auf die kulturelle Entwicklung. Die österreichischen Deutschen schlugen einen Sonderweg in der gesamtdeutschen Nationswerdung ein.

Zugleich liegt darin aber auch die Wurzel für das innere Dilemma der österreichischen Deutschen im 19. Jahrhundert: Denn der für die deutsche Nationswerdung charakteristische Zwiespalt zwischen einer stark ausgeprägten regionalen Identität (als Preußen, Sachsen, Bayern, Schwaben, etc.) und dem Gefühl der Zugehörigkeit zur deutschen Kulturnation wurde im Falle der Deutsch-Österreicher noch verkompliziert. Hier schob sich zwischen die regionale Identität als Tiroler, Wiener, Deutschböhme oder Donauschwabe und die Zugehörigkeit zur (gesamt-)deutschen Nation noch das Selbstverständnis als „Staatsvolk“ und Träger des Gesamtstaatsgedanken der Habsburgermonarchie.

Durch die Gründung des Deutschen Reiches als deutscher Nationalstaat (1871) unter Ausschluss der österreichischen Deutschen wurde die österreichische Identität auf eine harte Probe gestellt. Das als Gegenentwurf zum „Reichsdeutschen“ verstandene Österreichertum war geprägt von einer eigenartigen Mischung aus dem stolzen (und zuweilen sentimentalen) Beharren auf der bis zur Einigung Deutschlands führenden Stellung Österreichs im deutschsprachigen Raum und dem Gefühl des Ausgeschlossenseins bzw. der Minderwertigkeit angesichts der dynamischen Entwicklung des jungen deutschen Nationalstaates.

Eine weitere Belastung für die österreichische Identität bedeuteten die erfolgreiche Emanzipation und das selbstbewusste Auftreten der anderen Nationalitäten des Vielvölkerstaates, die als Bedrohung wahrgenommen wurden. Angesichts der Infragestellung der Hegemonie im Gesamtstaat verstärkte sich um 1900 unter den Deutsch-Österreichern die national-deutsche auf Kosten der österreichisch-habsburgischen Identität. Der Identitätswandel vom Österreicher zum Deutschen ging rasant vor sich und wurde zuweilen auch individuell als Bruch erlebt.

Bei Kriegsausbruch 1914 wurde von staatlicher Seite versucht, die patriotisch-chauvinistische Euphorie mit einem Revival des Österreichertums zu verbinden. Ein Symbol dafür war die 1915 dekretierte Einführung der offiziellen Bezeichnung „Österreich“ für Cisleithanien. In diesem Sinne wurde nun auch „Österreichisches“ in Kunst und Kultur herausgestrichen. Ein identitätsstiftender Kanon austriakischer Stereotypen wie Katholizismus und Treue zur Dynastie wurde erarbeitet, Epochen und Stile wie das Barock und das Biedermeier als klassische Ausformungen des Österreichertums konnotiert und die Musik als österreichische Hochkultur schlechthin dargestellt, was bis über den Zerfall der Habsburgermonarchie hinaus nachwirken sollte. 

Bibliografie 

Bruckmüller, Ernst: Österreichbegriff und Österreich-Bewußtsein in der franzisko-josephinischen Epoche, in: Plaschka, Richard Georg (Hrsg): Was heißt Österreich? Inhalt und Umfang des Österreichbegriffs vom 10. Jahrhundert bis heute (=Archiv für österreichische Geschichte 136), Wien 1995, S. 225–288

Hanisch, Ernst: Der lange Schatten des Staates. Österreichische Gesellschaftsgeschichte im 20. Jahrhundert [Österreichische Geschichte 1890–1990, hrsg. von Herwig Wolfram], Wien 2005

Křen, Jan: Dvě století střední Evropy [Zwei Jahrhunderte Mitteleuropas], Praha 2005

Rumpler, Helmut: Eine Chance für Mitteleuropa. Bürgerliche Emanzipation und Staatsverfall in der Habsburgermonarchie [Österreichische Geschichte 1804–1914, hrsg. von Herwig Wolfram], Wien 2005

Inhalte mit Bezug zu diesem Kapitel

Aspekt

  • Aspekt

    „Viribus unitis“ oder Völkerkerker?

    Der Vielvölkerstaat Österreich-Ungarn bildete einen mehr oder weniger stabilen Rahmen für die Koexistenz einer Vielzahl nationaler Gemeinschaften.

    Die viel beschworene „Einheit in der Vielfalt“ wurde in der Realität von zahlreichen Ungleichheiten überschattet. Dies zeigte sich vor allem im unterschiedlichen Ausmaß, in dem einzelne Sprachgruppen an der politischen und ökonomischen Macht beteiligt waren.

Personen, Objekte & Ereignisse