Die Angst vor dem Verlust der Hegemonie: Die Deutsch-Österreicher im österreichischen Vielvölkerstaat

Die Deutschen galten im 19. Jahrhundert für viele Zeitgenossen als wichtigste „Kulturträger“ in Zentraleuropa und waren auch in der Selbstsicht überzeugt von ihrer besonderen „Sendung“. Diese herausragende Stellung wurde von den jungen Nationalbewegungen der kleineren Völker der Region jedoch zunehmend infrage gestellt.

Die Angehörigen der deutschen Sprachgruppe betrachteten die emanzipatorischen Bemühungen der kleineren Völker zunächst aus einer Position der Überlegenheit durchaus wohlwollend. Erst als die kleineren Nationen begannen, Forderungen zu artikulieren, welche die deutsche Führungsrolle in Frage stellten, verwandelte sich der Deutschnationalismus in der Habsburgermonarchie in eine Abwehrideologie.

Die Stellung der Deutschsprachigen als Quasi-Staatsvolk der Habsburgermonarchie wurde zusätzlich erschüttert durch den Ausstieg Österreichs aus dem deutschen Einigungsprozess (Niederlage von Königgrätz 1866). Die österreichischen Deutschen waren nun plötzlich eine von vielen Nationalitäten unter habsburgischer Herrschaft, wenn auch zahlenmäßig am Stärksten und in vielerlei Hinsicht privilegiert.

Der nächste Schock erfolgte durch den Ausgleich mit Ungarn 1867: In der Doppelmonarchie nahmen nun die Magyaren die Position eines zweiten „Staatsvolkes“ ein. Während die Deutschen in Ungarn auf verlorenem Posten standen, wurden sie in der österreichischen Reichshälfte in ihrem Vormachtstreben radikaler. Der direkten Konkurrenz mit anderen Nationalitäten ausgesetzt, suchten Teile der nationalbewussten Deutschösterreicher Rückhalt in alldeutschen Phantasien.

In der Tagespolitik setzte man auf einen forcierten Konfrontationskurs gegen die anderen Nationalitäten. Eine Vielzahl von Verbänden und Vereinen wurde zur Sicherung des nationalen Besitzstandes ins Leben gerufen, v. a. auf dem Gebiet des Schulwesens und kultureller Institutionen, so z. B. der „Deutsche Schulverein“ (1880) oder der „Verein Südmark“ (1889). Vor allem in gemischtsprachigen Gebieten begann ein betont aggressives Vorgehen gegen die jeweils anderen Sprachgruppen. Unter dem Schlagwort „Deutsche Schutzarbeit“ gingen die Deutschen in Verteidigungsstellung und rüsteten zum „Abwehrkampf“ gegen die slawischen Nationalitäten, denen in der einschlägigen Polemik panslawistische, von Russland gelenkte Tendenzen unterstellt wurden. Die deutschnationale Polemik heroisierte das „österreichische Deutschtum“ zum „Vorposten deutscher Kultur“, umbrandet vom „slawischen Meer“.

Bibliografie 

Kann, Robert A.: Zur Problematik der Nationalitätenfrage in der Habsburgermonarchie 1848–1918, in: Wandruszka, Adam/Urbanitsch, Peter (Hrsg.): Die Habsburgermonarchie 1848–1918, Band III: Die Völker des Reiches, Wien 1980, Teilband 2, 1304–1338

Rumpler, Helmut: Eine Chance für Mitteleuropa. Bürgerliche Emanzipation und Staatsverfall in der Habsburgermonarchie [Österreichische Geschichte 1804–1914, hrsg. von Herwig Wolfram], Wien 2005

Stourzh, Gerald: Die Gleichberechtigung der Nationalitäten in der Verfassung und Verwaltung Österreichs 1848 bis 1918, Wien 1985

Sutter, Berthold: Die Deutschen, in: Wandruszka, Adam/Urbanitsch, Peter (Hrsg.): Die Habsburgermonarchie 1848–1918, Band III: Die Völker des Reiches, Wien 1980, Teilband 1, 154–339

Inhalte mit Bezug zu diesem Kapitel

Aspekt

  • Aspekt

    „Viribus unitis“ oder Völkerkerker?

    Der Vielvölkerstaat Österreich-Ungarn bildete einen mehr oder weniger stabilen Rahmen für die Koexistenz einer Vielzahl nationaler Gemeinschaften.

    Die viel beschworene „Einheit in der Vielfalt“ wurde in der Realität von zahlreichen Ungleichheiten überschattet. Dies zeigte sich vor allem im unterschiedlichen Ausmaß, in dem einzelne Sprachgruppen an der politischen und ökonomischen Macht beteiligt waren.

Personen, Objekte & Ereignisse

Entwicklungen

  • Entwicklung

    Der Weg zur Nation – Nationale Programme und Positionen

    Das ‚Werden der Nationen’ war in Europa Teil des Emanzipationsprozesses breiterer Bevölkerungsschichten aus feudaler Bevormundung. Gemäß den Idealen der Aufklärung und der Französischen Revolution sollte die Nation – nun verstanden als Gemeinschaft freier Bürger – anstelle feudaler Potentaten die Rolle des eigentlichen Souveräns übernehmen.

    Die Idee der Nation wurde als Schicksalsgemeinschaft definiert, die durch gemeinsame Abstammung, Kultur und Sprache verbunden war. Zur Stärkung des Gruppengefühls wurde eine verbindliche Sicht der Geschichte der eigenen Nation geschaffen.