Partei der Massen

Die Entwicklung der österreichischen Sozialdemokratie von der Parteieinigung in Hainfeld 1888/89 bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs

Der zum Jahreswechsel 1888/89 veranstaltete Hainfelder Parteitag brachte die Einigung der unterschiedlichen ideologischen Ausrichtungen innerhalb der Sozialdemokratie, die nun mit einem einheitlichen Programm an die Öffentlichkeit treten konnte.


 

110 Delegierte aus 13 Kronländern waren zum Jahreswechsel 1888/89 nach Hainfeld gekommen, um dem Einigungsparteitag der Sozialdemokraten beizuwohnen. Victor Adler, der noch 1882 mit den Deutschnationalen am Linzer Programm mitgearbeitet hatte, sich jedoch aufgrund der antisemitischen Töne eines Georg von Schönerer von ihnen abwandte, gelang es in den folgenden zwei Jahrzehnten, der Sozialdemokratie zu bedeutender politischer Macht zu verhelfen. Als ihr wichtigstes Organ gründete er 1889 die Arbeiter-Zeitung, die über 100 Jahre Bestand hatte. Im Zentrum der sozialdemokratischen Politik standen die Mobilisierung der Industriearbeiterschaft und deren Konstitution als politische Klasse.

In der am Hainfelder Parteitag verabschiedeten Prinzipienerklärung hieß es dazu: „Das Proletariat politisch zu organisieren, es mit dem Bewusstsein seiner Lage und seiner Aufgabe zu erfüllen, es geistig und physisch kampffähig zu machen und zu erhalten, ist daher das eigentliche Programm der socialdemokratischen Arbeiterpartei in Österreich.“

Die Sozialdemokratie entwickelte sich allmählich zu einer Massenpartei mit durchgängiger Organisation und breiter Basis. Massenversammlungen und Generalstreiks wurden zu einem beliebten Instrument ihrer Politkultur. Aufgrund der engen Kooperation mit den Arbeiterbildungsvereinen, Genossenschaften und Gewerkschaften, von denen die ersten bereits 1868 gegründet wurden, avancierte die Sozialdemokratische Arbeiterpartei um die Jahrhundertwende zu einer ‚klassischen’ Mitgliederpartei (mit ca. 120.000 Parteigängern allein in der österreichischen Reichshälfte). Ihre Anhänger stammten aus der Arbeiterschaft sowie aus den Angestellten- und Intellektuellenkreisen, die mittels zahlreicher Vorfeldorganisationen an die Partei gebunden wurden.

An der Spitze ihrer politischen Agenda standen die Forderungen nach gesetzlicher Verankerung des Achtstundentages sowie nach Einführung des allgemeinen Wahlrechts. Ihre Parole im Wahlkampf 1900 lautete: „Allgemeines, direktes, gleiches Wahlrecht! Nationale Selbständigkeit! Freies Bündnis aller Völker! Kampf gegen Ausbeutung, Knechtschaft und Volksverdummung!“ Im Jänner 1907 wurde schließlich das allgemeine, direkte und gleiche Wahlrecht für Männer sanktioniert, was den Sozialdemokraten bei den im Mai abgehaltenen Reichsratswahlen einen erheblichen Stimmenzuwachs bescherte. Mit 87 Mandaten (davon 50 Deutsche) stellten sie bis zum Zusammenschluss der Christlichsozialen und Klerikalen zur Christlichsozialen Reichspartei die stimmenstärkste Partei des Abgeordnetenhauses.

Die sich zuspitzende Nationalitätenfrage wurde auch für sie zusehends zum Problem, weshalb sie schließlich in einen Verband von einzelnen nationalen Parteien zerfiel. 1911 spalteten sich die tschechischen Sozialdemokraten ab und nach den im selben Jahr stattfindenden Wahlen waren die Sozialdemokraten in drei selbstständigen nationalen Parlamentsklubs vertreten. „Damit hatte“, wie Klaus Berchtold bemerkte, „die nationale Idee den Sieg über die internationale Idee des Sozialismus davongetragen.“

Bibliografie 

Buchmann, Bertrand Michael: Kaisertum und Doppelmonarchie, Wien 2003

Berchtold, Klaus: Österreichische Parteiprogramme 1868-1966, Wien 1967

Hanisch, Ernst: Österreichische Geschichte 1890-1990. Der lange Schatten des Staates. Österreichische Gesellschaftsgeschichte im 20. Jahrhundert, Wien 1994

Rumpler, Helmut: Österreichische Geschichte 1804-1914. Eine Chance für Mitteleuropa. Bürgerliche Emanzipation und Staatsverfall in der Habsburgermonarchie, Wien 1997

Urbanitsch, Peter: Die Nationalisierung der Massen, in: Das Zeitalter Kaiser Franz Josephs. 2. Teil 1880-1916. Glanz und Elend (Ausstellungskatalog der Niederösterreichischen Landesausstellung im Schloss Grafenegg), Wien 1987, 119-125

Ardelt, Rudolf G.: Sozialdemokratie und bürgerliche Öffentlichkeit. Überlegungen zum Hainfelder Parteitag, in: Ackerl, Isabella/Hummelberger, Walter/Mommsen, Hans (Hrsg.): Politik und Gesellschaft im alten und neuen Österreich. Festschrift für Rudolf Neck zum 60. Geburtstag. Bd. I, Wien 1981, 214-238

Wandruszka, Adam: Österreichs politische Struktur. Die Entwicklung der Parteien und politischen Bewegungen, in: Benedikt, Heinrich (Hrsg.): Geschichte der Republik Österreich, Wien 1977, 289-486

Wandruszka, Adam: Die Habsburgermonarchie von der Gründerzeit bis zum Ersten Weltkrieg, in: Das Zeitalter Kaiser Franz Josephs. 2. Teil 1880-1916. Glanz und Elend (Ausstellungskatalog der Niederösterreichischen Landesausstellung im Schloss Grafenegg), Wien 1987, 4-19

 

Zitate:

„Das Proletariat politisch zu organisieren …“: Prinzipienerklärung, zitiert nach: Ardelt, Rudolf G.: Sozialdemokratie und bürgerliche Öffentlichkeit. Überlegungen zum Hainfelder Parteitag, in: Ackerl, Isabella/Hummelberger, Walter/Mommsen, Hans (Hrsg.): Politik und Gesellschaft im alten und neuen Österreich. Festschrift für Rudolf Neck zum 60. Geburtstag. Bd. I, Wien 1981, 217

„Allgemeines, direktes, gleiches Wahlrecht! …“: Wahlkampfparole, zitiert nach: Berchtold, Klaus: Österreichische Parteiprogramme 1868-1966, Wien 1967, 26

„Damit hatte die nationale Idee …“: Berchtold, Klaus: Österreichische Parteiprogramme 1868-1966, Wien 1967, 28

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