Patriotische Aufladung im Konzert der Völker
„Denn immer noch, wenn des Geschickes Zeiger
Die große Stunde der Geschichte wies,
Stand dieses Volk der Tänzer und der Geiger
Wie Gottes Engel vor dem Paradies.“
(Anton Wildgans, Ein Gebet für Österreichs Volk und Kämpfer. August 1914)
Der Begründer der Wiener Musikwissenschaft, Guido Adler, wies immer wieder auf die Bedeutung der Musik für die Völkerverständigung hin; gleichzeitig betonte er 1917 jedoch die überlegene Rolle der österreichischen Tonkunst. Unter allen Kulturmomenten des österreichischen Volkes sei diese „unzweifelhaft eines der köstlichsten Güter (...) Unser Gemüts- und Phantasieleben offenbart sich in ihr, wir können dies ohne Ueberhebung in aller Bescheidenheit sagen, in herrlicher Art.“ Auch der Schriftsteller Anton Wildgans sah dies in ähnlicher Weise, als er zu Kriegsbeginn den Deutschen als „Volk der Dichter und Denker“ die Österreicher als das „Volk der Tänzer und Geiger“ gegenüberstellte.
Patriotische Beschwörungen von angeblich oder vermeintlich außergewöhnlichen Eigenschaften eines Volkes fanden bei allen Krieg führenden Nationen statt, Musikwissenschaft, Kritiker, aber auch Musiker stellten sich genauso in den Dienst der Kriegspropaganda wie andere Intellektuelle. „Niemals ist das Befreiende, Beflügelnde, Entführende der Musik stärker empfunden worden als in diesen Tagen“, vermerkte der renommierte Wiener Musikkritiker Richard Specht zu Kriegsbeginn.
Wenn Adler auch immer wieder die Schrecken des Krieges bedauerte, der den internationalen Austausch behinderte und die Tonkunst durch den Tod von begabten jungen Leuten schädigte, so wies er doch auf die notwendige Verteidigung der kulturellen Leistungen hin. Und gleichzeitig konstatierte er im Wesen der österreichischen Tonkunst, die das „reinste Abbild des echten Österreichertums (...) in seinen Verzweigungen und seiner Konzentration im Wechselverhältnis der Nationen“ sei, quasi eine praktische Anleitung zur „Lösung der brennenden politischen Probleme unserer Zeit“. Diese sah er in der Anerkennung der „unleugbaren“ Tatsache, dass das Deutsche im Zentrum allen Österreichertums stehe und in der Vollendung zur Vorherrschaft in der Tonkunst führte, die im Austausch durch die „anderen Volksmomente“, welche nur zu einer „beschränkten Eigengeltung“ fähig waren, bereichert wurde. Jedoch sei ab Mitte des 19. Jahrhunderts eine freie Entwicklung anderer nationaler Kunstschulen gelungen – freilich unter Führung der deutschen Kunst! „Wir können gerade in Oesterreich (...) aus dem Vergleich von Kunst und Leben mancherlei lernen, so wie auch dieser Krieg für lange Zeit einer der Lehrmeister der Weltgeschichte sein wird.“, folgerte Adler.
Auch in Deutschland tönte der Patriotismus ähnlich. Der durch Arbeiten über Richard Wagner und Richard Strauss angesehene Musikwissenschaftler Arthur Seidl veröffentlichte in der Allgemeinen Musik-Zeitung seine Thesen von der durch die Kriegsgegner gefährdeten deutschen Kultur, die „die erste, gewichtigste, ‚tiefste’ und über allen stehende sei“. Der französische Komponist Claude Debussy äußerte seine patriotische Gesinnung auf markige Weise: „Seit man Paris von diesen lästigen Ausländern gesäubert hat, sei es durch Erschießen, sei es durch Ausweisung, ist es augenblicklich ein reizvoller Ort geworden.“
Adler, Guido: Weltkrieg und Musik, in: Neue Freie Presse vom 2.7.1917, 1-3
Giesbrecht, Sabine: Musikalische Kriegsrüstung. Zur Funktion populärer Musik im 1. Weltkrieg. Gießen 2008. Unter: http://geb.uni-giessen.de/geb/volltexte/2008/5201/ (20.06.2014)
Nussbaumer, Martina: „Jetzt ist die Stunde da, in der nur das Höchste laut werden darf.“ Zur Aufrüstung des klassischen Musiklebens, in: Pfoser, Alfred, Weigl, Andreas (Hrsg.): Im Epizentrum des Zusammenbruchs. Wien 2013, 374-385
Zitate:
„unzweifelhaft eines der köstlichsten Güter ...": Neue Freie Presse vom 2.7.1917, 1
„Niemals ist das Befreiende ...": Specht, Richard: Die Musik im Krieg, in: Der Merker 5/116, Wien 1914, 522-525, hier: 523, zitiert nach Nussbaumer, Martina: „Jetzt ist die Stunde da. in der nur das Höchste laut werden darf.“ Zur Aufrüstung des klassischen Musiklebens, in: Pfoser, Alfred, Weigl, Andreas (Hrsg.): Im Epizentrum des Zusammenbruchs. Wien 2013, 374-385
„reinste Abbild des echten Österreichertums ...", „Wir können gerade in Oesterreich ...": Neue Freie Presse vom 2.7.1917, 1
„die erste, gewichtigste, ‚tiefste’ ...": AMZ XLII, 1915, zitiert nach: Giesbrecht, Sabine: Musikalische Kriegsrüstung. Zur Funktion populärer Musik im 1. Weltkrieg. Gießen 2008, 169. Unter: http://geb.uni-giessen.de/geb/volltexte/2008/5201/ (20.06.2014), 163
„Seit man Paris von diesen ...": Barraqué, Jean: Claude Debussy. Reinbek bei Hamburg 1964, 148
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Kapitel
- „Salonrock statt Frack“ – der Musikbetrieb in Sparzeiten
- Patriotische Aufladung im Konzert der Völker
- „Die Musen lernen das Dienen im Kriege.“
- Ernste Zeit – ernste Kunst!
- „Tanzen möcht’ ich, jauchzen möcht’ ich“ – Unterhaltungsmusik im Ersten Weltkrieg
- „Das deutsche Musikleben und seine Entlausung“ – Gebrauchsmusik für den Krieg
- „Was jetzt der Feldgraue singt, singt in seltener Einheit das gesamte deutsche Volk.“ – Das Soldatenlied als Sammelgegenstand
- „Hugo hat die verdammte Pflicht, den Tod fürs Vaterland nicht zu sterben, bevor ich meinen III. Akt habe.“ – Richard Strauss und der Erste Weltkrieg
- Militarismus und Schrecken in Musik gesetzt
- „La Victoire en chantant“ – Das französische Chanson im Ersten Weltkrieg
- Musikalische Innovationen im Ersten Weltkrieg
- Komponistenschicksale: Krieg, Tod, Sehnsucht nach Frieden und Verarbeitung
- Komponistenstars und der „Große Krieg“