Militarismus und Schrecken in Musik gesetzt
Während Richard Strauss’ musikalische Produktion nach August 1914 scheinbar unbeeinflusst und unbeeindruckt von den Schrecken des Ersten Weltkrieges weiterging, lassen sich von der Musik Alban Bergs zwei große Verbindungslinien zum Krieg herstellen.
Die erste Linie betrifft den letzten Satz der 3 Orchesterstücke op. 6, die zum allergrößten Teil noch vor August 1914 entstanden sind. Der in der Partitur mit „Marsch“ bezeichnete Satz mutet wie eine furchtbare Endzeitvision an, wie eine Vorausahnung all dessen, was die europäische Welt am Ende des Krieges an Tod, Chaos und Zerstörung erwartete. Nicht zufällig wurde dieser Teil unmittelbar vor Kriegsbeginn vollendet.
Eine enge Verbindung lässt sich auch zwischen Wozzek – einer der größten, wenn nicht der größten Oper des 20. Jahrhunderts – und dem Ersten Weltkrieg herstellen, auch wenn der Krieg selbst nicht den eigentlichen Anlass zu Bergs Entschluss bildete, Büchners Woyzeck zu vertonen. Im Mai des Jahres 1914, einen Monat, nachdem der 29-jährige zur Musterung gerufen und als „zum Dienst mit der Waffe nicht geeignet“ eingestuft worden war, besuchte Berg die Wiener Erstaufführung von Georg Büchners Theaterstück an der Wiener Residenzbühne. Er war vom sozialen Gehalt, der Sprache und dem formalen Aufbau des Dramas so sehr beeindruckt, dass er spontan den Entschluss fasste, daraus eine Oper zu machen. Rasch entstanden erste Skizzen zur Musik. Die eigentliche Kompositionsarbeit begann allerdings erst 1915.
„Es ist nicht nur das Schicksal dieses von aller Welt ausgenützten und gequälten armen Menschen, was mir so nahe geht“, schrieb er an seinen Freund, den Komponisten Anton Webern, „sondern auch der unerhörte Stimmungsgehalt der einzelnen Szenen“. Im Krieg trat zur Empathie mit der Figur des gequälten und geschundenen Soldaten Wozzek Bergs eigene Erfahrung mit dem Militärdienst hinzu, wie aus einem Brief an seine Frau hervorgeht: „Steckt doch auch ein Stück von mir in seiner Figur, seit ich ebenso abhängig von verhassten Menschen, gebunden, kränklich, unfrei, resigniert, ja gedemütigt, diese Kriegsjahre verbringe.“ Willi Reich berichtet in seinem Buch Alban Berg. Leben und Werk, dass der Komponist zum „Chor der schlafenden Soldaten“ in der 5. Szene des 2. Aktes durch die gedrückte Atmosphäre in den Schlafsälen der Kaserne inspiriert worden sei, in der er untergebracht war.
Der Ausbruch des Ersten Weltkriegs hatte Bergs Situation grundlegend verändert. Ursprünglich freigestellt, wurde er 1915 erneut untersucht, als „tauglich zu Hilfsdiensten“ eingestuft und im August für drei Jahre zum Militär eingezogen. Verspürte er anfangs noch eine „ungeheure Ungeduld und Unruhe wegen des Krieges“ und den „Drang mit dabei zu sein, das Gefühl der Ohnmacht, dem Vaterland nicht dienen zu können“, änderte sich seine Meinung nach mehreren körperlichen und seelischen Zusammenbrüchen. Seine Frau Helene – wahrscheinlich eine leibliche Tochter Kaiser Franz Josephs I. aus der Liaison mit Anna Nahowski (tsch. Nahowska) – wandte sich an den Kaiser und bewirkte die Versetzung des Musikers in den Bürodienst. 1916 kam er als Schreiber ins Kriegsministerium und wurde mehrmals wochenlang dienstfrei gestellt. (Die Auszeiten nützte er für die Arbeit an Wozzeck.)
Mitten in den Arbeiten zur Wirtshausszene des 2. Aktes findet sich das Wort „Kriegsende“. 1921 war die Oper beendet. Teile der Musik wurden am 15. Juli 1924 als Drei Bruchstücke aus Wozzeck unter Hermann Scherchen konzertant aufgeführt. Die szenische Uraufführung erfolgte am 14. Dezember 1925 an der Staatsoper (Unter den Linden) in Berlin unter Erich Kleiber.
Die Orchesterstücke und die Oper sind auch musikalisch eng miteinander verbunden. Sie gehören zu den eindrucksvollsten künstlerischen Dokumenten, die ihre Entstehung dem Weltkrieg verdanken.
De Voto, Mark: Alban Bergs Drei Orchesterstücke op. 6: Struktur, Thematik und ihr Verhältnis zu Wozzeck, in: Grasberger, Franz/Stefan, Rudolf (Hrsg.): Alban Berg Studien, Bd. 2, Wien 1981, 97-107
Hilmar, Ernst: Wozzeck von Alban Berg. Entstehung – erste Erfolge – Repressionen (1914 – 1935), Wien 1975
Reich, Willi: A guide to Alban Berg’s opera Wozzeck. New York 1932
Tonaufnahme "3 Orchesterstücke" Alban Berg. Unter: http://klassik.s-fahl.de/index.php?option=com_content&view=article&id=55... (20.06.2014)
Zitate:
„Es ist nicht nur das Schicksal ...“: Hilmar, Ernst: Wozzeck von Alban Berg, 21
„Steckt doch auch ein Stück ..."“: Berg, Helene (Hrsg.): Alban Berg, Briefe an seine Frau, München/Wien 1965, 376
„ungeheure Ungeduld und Unruhe ...“ zitiert nach: Scherliess, Volker: Alban Berg, Reinbek bei Hamburg 1975, 60
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Kapitel
- „Salonrock statt Frack“ – der Musikbetrieb in Sparzeiten
- Patriotische Aufladung im Konzert der Völker
- „Die Musen lernen das Dienen im Kriege.“
- Ernste Zeit – ernste Kunst!
- „Tanzen möcht’ ich, jauchzen möcht’ ich“ – Unterhaltungsmusik im Ersten Weltkrieg
- „Das deutsche Musikleben und seine Entlausung“ – Gebrauchsmusik für den Krieg
- „Was jetzt der Feldgraue singt, singt in seltener Einheit das gesamte deutsche Volk.“ – Das Soldatenlied als Sammelgegenstand
- „Hugo hat die verdammte Pflicht, den Tod fürs Vaterland nicht zu sterben, bevor ich meinen III. Akt habe.“ – Richard Strauss und der Erste Weltkrieg
- Militarismus und Schrecken in Musik gesetzt
- „La Victoire en chantant“ – Das französische Chanson im Ersten Weltkrieg
- Musikalische Innovationen im Ersten Weltkrieg
- Komponistenschicksale: Krieg, Tod, Sehnsucht nach Frieden und Verarbeitung
- Komponistenstars und der „Große Krieg“