„Das deutsche Musikleben und seine Entlausung“ – Gebrauchsmusik für den Krieg

Musik galt im 19. Jahrhundert durchwegs als unpolitisch. Im 20. Jahrhundert und vor allem im Ersten Weltkrieg wurde sie zunehmend politischer. Dabei mutierte sie zur „Gebrauchsmusik“, wurde vielfach in einen pseudonationalistischen Kontext gepresst und sollte so zur moralischen Mobilmachung beitragen.

Ab Kriegsbeginn wurden unzählige patriotische Feiern abgehalten, die in kleinem oder großem Rahmen das Ziel hatten, das Publikum für den Krieg und nationale bzw. staatliche Interessen zu gewinnen. Musikwissenschaftliche Zeitschriften begannen, vaterländische Lieder für diese Feiern abzudrucken. Unter dem bezeichnenden Titel „Musikalische Kriegsrüstung“ veröffentlichte der Musikschriftsteller Arthur Seidl im Jahr 1915 in der Allgemeinen musikalischen Zeitung (AMZ) einen Katalog mit fast 700 Musikstücken, der für die Gestaltung von diversen Veranstaltungen als Leitfaden dienen sollte.

Seidl sortierte in seiner Aufzählung zuerst penibel die „feindlichen“ Stücke aus, was in einigen Fällen nicht eindeutig war. Besonders italienische Werke erwiesen sich als problematisch, da Italien zuerst nur Österreich-Ungarn den Krieg erklärt hatte. Im Zweifelsfall wurden daher einzelne Werke mit eckigen Klammern gekennzeichnet. Da Italien ab 1916 zum „Vollfeind“ wurde, fielen die Zensurbestrebungen umso härter aus: Selbst italienischsprachige Bezeichnungen in Partituren sollten unter dem Titel der „Entlausung“ des deutschen Musiklebens eliminiert werden.

In das Verzeichnis wurden bevorzugt Lieder aufgenommen, die den Feind schmähten, dies waren im Falle Deutschlands besonders der Erbfeind Frankreich und England. Hervorragend eigneten sich Stücke, die an frühere Siege gegen die feindlichen Nationen erinnerten. Als wahrer „Hit“ erwies sich Die Wacht am Rhein; so schrieb etwa ein Soldat noch kurz vor seinem Tod im September 1914 an der Marne: „Und dann ging’s donnernd, brausend, unter tausendstimmigem Gesang der Wacht am Rhein über den altehrwürdigen Strom. (...) Hab keine Angst, wir tun eben unsere Pflicht, einer wie der andere. Wir lassen keinen rein. Die Wacht am Rhein steht fest und treu.

Für religiöse Andachten, Trauer- und Gedenkfeiern und für den „gehobenen“ Anspruch griff man auf Werke der klassischen Musik zurück. Hier stand die Kirchenmusik von J. S. Bach weit oben auf der Liste, aber auch Beethoven (die 3. und 5. Symphonie, Egmont, Fidelio) und Liszt, Händels Halleluja und für das protestantische Publikum Luthers Eine feste Burg ist unser Gott. Für Konzerte wurden musikalische Schlachtendarstellungen, wie etwa die Hunnenschlacht von Liszt, herangezogen und naturgemäß eine breite Auswahl an Märschen. Oft erlitten diese Werke durch ihre gewaltsame Reduktion auf bestimmte, als besonders brauchbar geltende Stellen oder durch das Hinzufügen neuer Texte jedoch fragwürdige Umformungen.

Für das weibliche Publikum erachtete Seidl Stücke als geeignet, die sich explizit an Frauen, Mütter und deren Söhne wandten und imstande waren, bei Bedarf Mut und Trost zu vermitteln oder auch den Abschiedsschmerz ansprachen. Besonders wichtig galten hierbei Werke, die das Sterben thematisierten und die Ehefrauen und Mütter auf den Tod von Ehemännern und Söhnen vorbereiten sollten. Robert Stolz, ansonsten eher dem Genre der Operettenmusik zugeordnet, vertonte ein Gedicht von Alfred Grünwald mit dem Titel Die Mutter des Reservisten, in dem sich eine Mutter von ihrem Sohn verabschiedet – begleitet von einer Melodie im Walzerrhythmus!

Die Qualität mancher Musikstücke stand dabei nicht so sehr im Vordergrund, hatten doch laut Arthur Seidl ästhetische Kriterien in Kriegszeiten hintanzustehen.

Bibliografie 

Giesbrecht, Sabine: Musikalische Kriegsrüstung. Zur Funktion populärer Musik im 1. Weltkrieg, Gießen 2008. Unter: http://geb.uni-giessen.de/geb/volltexte/2008/5201/ (20.06.2014)

Tonaufnahme „Hunnenschlacht“ Franz Liszt. Unter: https://www.youtube.com/watch?v=pxrHFXP3p1Y (20.06.2014)

Tonaufnahme „3. Symphonie (Eroica)“ Ludwig van Beethoven. Unter: https://musopen.org/music/1033/ludwig-van-beethoven/symphony-no3-in-e-fl... (20.06.2014)

 

Zitate:

"Entlausung": NZfM Jg. 82, Teil I, 1915 und NZfM Jg. 83, Teil II, 1916, 277ff., zitiert nach: Giesbrecht, Sabine: Musikalische Kriegsrüstung. Zur Funktion populärer Musik im 1. Weltkrieg, Gießen 2008, 164. Unter: http://geb.uni-giessen.de/geb/volltexte/2008/5201/ (20.06.2014)

„Und dann ging’s donnernd ...": Brief: Der deutsche Soldat. Briefe aus dem Weltkrieg, München 1921, 21f., zitiert nach: Giesbrecht, Sabine: Musikalische Kriegsrüstung. Zur Funktion populärer Musik im 1. Weltkrieg, Gießen 2008, 169. Unter: http://geb.uni-giessen.de/geb/volltexte/2008/5201/ (20.06.2014)

 

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