Gewalt ohne Ende

Allgemein bedeutete der Jahreswechsel 1918/19 für die mittelosteuropäische Makroregion eine neuerliche Gewalteskalation, die im Wesentlichen auf drei Schlüsselfaktoren beruhte: Erstens Auseinandersetzungen zwischen den Nachfolgestaaten des Habsburgerreiches und den damit verbundenen Kämpfen zwischen Räteungarn und seinen Nachbarländern, zweitens den territorialen Ansprüchen Polens und seiner Kontrahenten, drittens dem Vordringen der Roten Armee in vormals deutsch-österreichische Okkupationsgebiete.

Durch die Desintegration des Habsburgerreiches entstand in Zentraleuropa eine Krisenzone, die sowohl von ethnischen Konflikten als auch von sozialen und politischen Spannungen erschüttert wurde. Keine unbedeutende Rolle spielten dabei auch weltrevolutionäre Hoffnungen und linksradikale Umsturzversuche.

Wie sehr derartige Strömungen an nationale Interessen geknüpft sein konnten, bewies das Entstehen der Räterepublik in Budapest. Schließlich wandte sich das von den Gebietsforderungen der Entente enttäuschte Ungarn den Losungen der „Oktoberrevolution“ zu. Die daraufhin einsetzende antibolschewistische Intervention vor allem des Nachbarstaates Rumänien war dann wiederum nicht von dessen territorialen Ansprüchen zu trennen.

Während inzwischen auch der „deutschösterreichische Reststaat“ und insbesondere seine Hauptstadt Wien als Herd einer bolschewistischen Rebellion angesehen wurden, ging es hier wiederum um Gebietsforderungen und bewaffnete Konfrontationen vor allem mit magyarischen und südslawischen Einheiten.

Weiter nördlich und östlich stritt man indes ebenfalls um Grenzen und das Schicksal neuer Nationalstaaten. Polnische Truppen, ukrainische und baltische Unabhängigkeitsbewegungen bekämpften einander und zugleich vorrückende Verbände der Roten Armee, die sich ihrerseits nicht bloß gegen „Randvölker“, sondern auch gegen die innere Opposition und ausländische Streitkräfte erfolgreich zur Wehr setzten: Im Laufe des Jahres 1918 hatten sich Japan und die Westmächte zur Konfrontation mit Lenins „Oktoberregime“ entschlossen. Eine alliierte Intervention im ehemaligen Zarenimperium, die von etlichen Widersprüchen gekennzeichnet war und unter anderem das Misstrauen zwischen Tokio und Washington zutage förderte, erweiterte bis Anfang der 1920er Jahre die Kampf- und Unruhezone bis zum Pazifik.

In den multiethnischen Gebieten zwischen Danzig und Odessa, Tallinn und Taganrog, zwischen Posen und Minsk, Krakau und Charkow, wo die größten Schlachten an der Ostfront des Ersten Weltkrieges geschlagen worden waren, mündeten unterdessen die Rivalitäten in ein „Duell“ zwischen Warschau und Moskau, das mit dem polnisch-sowjetischen Übereinkommen von Riga am 18. März 1921 endete.

Bibliografie 

Leidinger, Hannes: Der Erste Weltkrieg, Wien/Köln/Weimar 2011

Neiberg, Michael/Jordan, David (Hrsg.): The Eastern Front 1914–1920. From Tannenberg to the Russo-Polish War, London 2008

Inhalte mit Bezug zu diesem Kapitel

Aspekt

  • Aspekt

    Nach dem Krieg

    Mit dem Ersten Weltkrieg ging das „lange 19. Jahrhundert“ zu Ende. An die Stelle der monarchischen Imperien traten neue politische Player. Die k. u. k. Monarchie zerfiel in einzelne Nationalstaaten. Im November 1918 wurde die Republik Deutschösterreich proklamiert, im Oktober 1920 Österreich als Bundesstaat errichtet. Die Jahre nach dem Krieg waren überaus bewegt: Sie changierten in einem Spannungsverhältnis von Aufbruch und Niederlage, zwischen politischen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Errungenschaften und Rückschlägen.

Personen, Objekte & Ereignisse

  • Objekt

    Revolutionäre Bewegungen, Streikbewegungen

    Die Umstellung der Produktionsstätten auf Kriegswirtschaft und der Einsatz der Männer an der Front bedingte, dass zunehmend Frauen in zuvor typischen Männerberufen, wie beispielsweise in Betrieben der Rüstungsindustrie, beschäftigt wurden. Frauen mussten auch die Versorgung ihrer Familien übernehmen und reagierten daher auch als Erste mit Protestaktionen auf die zunehmend prekäre Ernährungslage und auf extrem schlechte Arbeitsbedingungen in den Betrieben.

Entwicklungen

  • Entwicklung

    Der Weg zur Nation – Nationale Programme und Positionen

    Das ‚Werden der Nationen’ war in Europa Teil des Emanzipationsprozesses breiterer Bevölkerungsschichten aus feudaler Bevormundung. Gemäß den Idealen der Aufklärung und der Französischen Revolution sollte die Nation – nun verstanden als Gemeinschaft freier Bürger – anstelle feudaler Potentaten die Rolle des eigentlichen Souveräns übernehmen.

    Die Idee der Nation wurde als Schicksalsgemeinschaft definiert, die durch gemeinsame Abstammung, Kultur und Sprache verbunden war. Zur Stärkung des Gruppengefühls wurde eine verbindliche Sicht der Geschichte der eigenen Nation geschaffen.