Die Armeen der kriegführenden Mächte betrachteten die im Frontgebiet verbliebenen Bewohner nicht selten als unerwünschte Störfaktoren. Die gesteigerte Nervosität und verstärkte „russophile“ Feindbilder im Gefolge der beginnenden Kampfhandlungen forderten daher auch an der Ostfront zahlreiche zivile Opfer. Eine Reihe von Befehlen ordnete das „rücksichtslose Vorgehen“ gegen „Verdächtige und mögliche Verräter“ an. Wer nicht „sofort ohne Schonung“ an Ort und Stelle „niedergemacht“ wurde, sah sich mit einer rigorosen Vertreibungspolitik konfrontiert.
In vielen Gegenden Galiziens behandelte man die Einwohner unmenschlich: Ganze Dörfer wurden „aus strategischen Gründen“ niedergebrannt, Ortsansässige oft „mit dem Bajonett“ weggetrieben, ohne sie über den Zweck und die Ursache aufzuklären und wenigstens einen Teil ihres beweglichen Vermögens mitnehmen zu lassen. Katastrophal waren dann auch die Transportbedingungen zu den neuen Bestimmungsorten. Rücksichtslos trennten die Militärs Männer von Frauen, Mütter von kleinen Kindern. In offenen und ungeheizten Viehwaggons starben mangelhaft bekleidete Menschen an Unterkühlung. Zeitgleich spielten sich ähnliche Elendsszenen im Front- und Etappenraum der Zarenarmee ab. Auch hier vertrieben die Militärs Teile der lokalen Bevölkerung mitleidslos und ohne entsprechende Vorkehrungen. Viele starben dabei unter anderem an Unterernährung, Lungenentzündung, Cholera und Typhus.
Die Elendsszenen wiesen teilweise auf „Modernisierungsdefizite“ in den betroffenen Regionen hin, insbesondere aber auf die Überforderung der Staatsapparate angesichts der zu „verwaltenden Massen“ an Flüchtlingen, Internierten und Kriegsgefangenen. Allerdings gab es auch noch andere Ursachen. Eine bereits vor 1914 weit verbreitete Spionage- und Verratshysterie steigerte sich nun nämlich zur Ethnisierung und Radikalisierung der Kriegsführung – angesichts des zur Schau gestellten Patriotismus und der damit verbundenen Ablehnung jeder vermuteten oder tatsächlichen Andersartigkeit betraf dies nun verstärkt auch Zivilisten.
Folglich machten österreichisch-ungarische Kampfverbände vom „Kriegsnotwehrrecht“ gegen „Russophile“ von Anfang an „ausgiebig Gebrauch“. Konkret bedeutete das, Verdächtige sofort niederzuschießen, Geiseln zu nehmen und nach Gutdünken zu exekutieren, ganze Dörfer des Verrats zu beschuldigen und dem „Erdboden gleichzumachen“. Andere brachte man in die Internierungslager Gmünd, Theresienstadt und Thalerhof bei Graz, wo sie nach furchtbaren Transportbedingungen erneut Schikanen ausgesetzt waren. Zusammengepfercht in Zelten und Baracken, lediglich mit Hungerrationen versorgt, starben allein in Thalerhof insgesamt mindestens 2.000 jener rund 30.000 Ruthenen – Männer, Frauen und Kinder – aus Galizien und der Bukowina, die dort zwischen 1914 und 1917 interniert gewesen waren, an Unterernährung, Entkräftung und Typhus.
Nicht viel besser verhielt sich die russische Armee speziell gegenüber den Juden, die sich mit meist völlig haltlosen Anschuldigungen konfrontiert sahen. Als „Brunnenvergifter“, „Spione“ und „Saboteure“ verleumdet, wurden sie, ähnlich wie viele Ruthenen Opfer zahlreicher Übergriffe. Aus mehreren Regionen sind gewaltsame Exzesse gegen die lokale Bevölkerung belegt, waren viele Frauen Opfer von Vergewaltigungen. An vielen Orten wurden Synagogen und ganze Wohnviertel niedergebrannt, Tausende des Verrates bezichtigt und Hunderte zum Tode verurteilt oder ohne Verfahren exekutiert.
Gatrell, Peter: A Whole Empire Walking. Refugees in Russia during World War I, Bloomington/Indianapolis 1999
Leidinger, Hannes: „Der Einzug des Galgens und des Mordes“. Die parlamentarischen Stellungnahmen polnischer und ruthenischer Reichsratsabgeordneter zu den Massenhinrichtungen in Galizien 1914/15, in: Zeitgeschichte, 33. Jg. Sept./Okt. 2006, H. 5, 235-260
Mentzel, Walter: Kriegsflüchtlinge in Cisleithanien im Ersten Weltkrieg, Diss. Wien 1997
Wendland, Anna Veronika: Die Russophilen in Galizien, Wien 2001
Zielinski, Konrad: The Shtetl in Poland, 1914–1918, in: Katz, Steven T. (Hrsg.): The Shtetl. New Evaluations, New York/London 2007, 102-120
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Kapitel
- „Die vergessene Front“ – Die lange Vernachlässigung und das neue Interesse am „Osten“
- Charakteristika der Kriegsführung an der russischen Front
- Folgen der Offensiven und Geländegewinne
- Krieg gegen die eigene Bevölkerung
- Die Eröffnungsfeldzüge
- Die Katastrophe der Zarenarmee
- „Ein letztes Aufbäumen“ Russlands
- Die russische Revolution und der fragile Frieden im „Osten“
- Okkupation
- Gewalt ohne Ende