Die Eröffnungsfeldzüge

In ganz Europa gaben die militärischen Befehlshaber der Offensivstrategie den Vorzug. Nach wenigen Monaten war jedoch klar, dass die Angriffsoperationen fast überall gescheitert waren. Im Westen begann der Graben- und Stellungskrieg. Im Osten fiel die Bilanz der Eröffnungsfeldzüge von Anfang an differenzierter aus.

Die ohnehin vielfach bereits infrage gestellte Schlagkraft des Habsburgerheeres erwies sich angesichts der Herausforderung durch die Zarenarmee im Nordosten der Donaumonarchie als tatsächlich mangelhaft. Das k. u. k. Armeeoberkommando (AOK) unter Franz Conrad von Hötzendorf glaubte dennoch, die Initiative übernehmen zu müssen. Österreichisch-ungarische Truppen sollten die polnischen Bahnlinien unterbrechen und dem gegen Ostpreußen vormarschierenden Gegner in den Rücken fallen.

Statt eines Prestigeerfolges verzeichnete Conrad schließlich demütigende Gebietsverluste in Galizien. Die anfänglichen Niederlagen waren zwar auch auf das größere „Humanpotenzial“ des Romanowimperiums und den beschleunigten Aufmarsch der Zarenarmee zurückzuführen. Das AOK (k. u. k. Armeeoberkommando) hatte aber auch die Möglichkeiten falsch eingeschätzt, eine sogenannte „B-Staffel“ rechtzeitig vom Balkan an die „Russlandfront“ verschieben zu können. Österreich-Ungarns empfindliche Niederlagen, allen voran der Fall von Lemberg und der Festung Przemyśl, gingen einher mit erschreckenden Menschenverlusten, speziell auf der Seite der k. u. k. Armee. Von deren am nordöstlichen Kriegsschauplatz eingesetzten 800.000 Mann fiel etwa die Hälfte durch Tod, Verwundung oder Gefangenschaft aus.

Die zahlenmäßig überlegenen Russen hatten demgegenüber ‚nur‘ 250.000 Soldaten verloren. Dennoch konnten auch sie sich ihres Triumphes kaum erfreuen. Ihre 1. und 2. Armee unter Pawel Rennenkampf und Alexander Samsonow wurden von den deutschen Verteidigern unter Paul von Hindenburg und seinem Stabschef Erich Ludendorff bei Tannenberg geschlagen. Nachdem seine Verbände eingekesselt und aufgerieben worden waren, nahm sich Samsonow das Leben. 92.000 Angehörige der Romanowarmee gerieten nach offiziellen Angaben des Hohenzollernreiches in Gefangenschaft, weitere 50.000 waren verwundet oder gefallen. Infolge des deutschen Siegs machten die Einheiten Rennenkampfs kehrt. Am 13. September 1914 zogen sie sich auf das Territorium des Zarenimperiums zurück.

Obwohl die Front im Osten durchlässiger war, scheiterten also auch hier häufig ambitionierte Vorstöße in feindliche Regionen. Ein Umdenken der Generäle war jedoch kaum festzustellen. Weiterhin hofften führende Militärs trotz der bisherigen Erfahrungen auf die Erstürmung und Überwindung der gegnerischen Stellungen. Dass bisweilen gerade an der „Russlandfront“ tatsächlich größere Terraingewinne zu verzeichnen waren, trug folglich in keinem geringen Ausmaß zur Aufrechterhaltung des Offensivgeistes trotz einsetzender Ernüchterung bei.

Bibliografie 

Groß, Gerhard P. (Hrsg.): Die vergessene Front. Der Osten 1914/15. Ereignis, Wirkung, Nachwirkung, Paderborn/München/Wien 2006

Herwig, Holger H.: The First World War. Germany and Austria-Hungary 1914–1918, London/New York/Sydney 1997

Stevenson, David: 1914–1918. The History of the First World War, London/New York 2004

Strachan, Hew: Der Erste Weltkrieg. Eine neue illustrierte Geschichte, 3. Auflage, München 2009

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Aspekt

Personen, Objekte & Ereignisse

  • Objekt

    Kriegsgefangenschaft

    Im Mai 1916 schickt Anton Baumgartner eine Kriegsgefangenenpostkarte an seinen Sohn Otto im Gefangenenlager Nowo Nikolajewsk in Sibirien (heute Nowosibirsk). Otto Baumgartner ist nur einer von hunderttausenden Soldaten, die sich im Ersten Weltkrieg in feindlichem Gewahrsam befanden. Gemessen an der Gesamtstärke der jeweiligen Armeen geriet jeder dreizehnte Reichsdeutsche, jeder zehnte Franzose und Italiener, jeder fünfte Angehörige des zarischen Heeres und schließlich fast jeder Dritte der habsburgischen Streitkräfte im Laufe der Kampfhandlungen des Krieges in Gefangenschaft.