Anfang Mai 1915 geriet aufgrund des deutsch-österreichischen Durchbruchs bei Tarnów-Gorlice die russische Front ins Wanken. In wenigen Wochen war das von den Truppen des Zaren Nikolaus II. okkupierte Galizien zurückerobert. Die anschließenden Vorstöße des deutschen Oberkommandos im Osten führten zur Eroberung von Russisch-Polen und von Teilen des Baltikums.
Trotz für gewöhnlich geringerer Truppen- beziehungsweise Bewaffnungsdichte im „Osten“ war gerade hier kurzfristig die höchste Feuerkraft des gesamten Ersten Weltkrieges konzentriert. Im Frühjahr 1915 setzten die Mittelmächte Deutschland und Österreich-Ungarn 334 schwere Geschütze gegenüber vier russischen sowie 1.272 Feldgeschütze gegenüber 675 russischen ein. Hinzu kamen die schwachen Verteidigungslinien der Zarenarmee: Die Befestigungen erwiesen sich als mangelhaft, die Gräben boten kaum Schutz, von einer effektiven Tiefenstaffelung konnte kaum die Rede sein.
Konsequenz dieser Missverhältnisse und Unzulänglichkeiten war ein beispielloser Offensiverfolg der verbündeten Habsburger- und Hohenzollernarmeen. Am 3. beziehungsweise 22. Juni 1915 eroberten sie Przemyśl beziehungsweise Lemberg zurück, am 5. August marschierten deutsche Verbände in Warschau ein, Mitte des Monats überschritten sie den Bug, und gegen Monatsende nahmen sie die befestigten Städte Grodno und Brest-Litowsk ein.
Die Streitkräfte des Zaren verloren im Laufe dieser militärischen Operationen 1,4 Millionen Mann, davon ging die Hälfte in Gefangenschaft. Zugleich vergrößerte der russische Rückzug das Ressourcenproblem der Armee. Einerseits erbeuteten die Mittelmächte 1.300 Geschütze, 53.000 großkalibrige und rund 800.000 Feldartillerie-Granaten. Andererseits konnten Ausrüstungsmängel auch aufgrund verlorener Rüstungsbetriebe nicht beseitigt werden. Wichtige Industrieanlagen in den westlichen Randgebieten des Zarenreiches waren an die Gegner gefallen, die Evakuierung und die Demontage von Fabriken beziehungsweise Maschinen fanden nicht rechtzeitig statt oder erwiesen sich als unzureichend.
Abgesehen davon wandten die zaristischen Armeekommanden auch bewusst eine „Politik der verbrannten Erde“ an. Die Zerstörungen gingen Hand in Hand mit Gewaltaktionen gegenüber vermeintlich „unzuverlässigen Elementen“. Hinzu kam eine Fluchtwelle, die angesichts der zu versorgenden Menschenmassen selbst weiter entfernte Regionen im Osten des Zarenimperiums mit beträchtlichen organisatorischen und sozialen Schwierigkeiten konfrontierte.
Herwig, Holger H.: The First World War. Germany and Austria-Hungary 1914–1918, London/New York/Sydney 1997
Stevenson, David: 1914–1918. The History of the First World War, London/New York 2004
Strachan, Hew: Der Erste Weltkrieg. Eine neue illustrierte Geschichte, 3. Auflage, München 2009
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Kapitel
- „Die vergessene Front“ – Die lange Vernachlässigung und das neue Interesse am „Osten“
- Charakteristika der Kriegsführung an der russischen Front
- Folgen der Offensiven und Geländegewinne
- Krieg gegen die eigene Bevölkerung
- Die Eröffnungsfeldzüge
- Die Katastrophe der Zarenarmee
- „Ein letztes Aufbäumen“ Russlands
- Die russische Revolution und der fragile Frieden im „Osten“
- Okkupation
- Gewalt ohne Ende