„Die vergessene Front“ – Die lange Vernachlässigung und das neue Interesse am „Osten“

Schon während des Krieges geriet die Ostfront gegenüber den Kriegsschauplätzen im Westen in den Hintergrund von Propaganda und medialer Darstellung. Unrichtig ist es jedoch, die Auseinandersetzung mit den Kampfschauplätzen in der Bukowina, Galizien, Russisch-Polen, dem Baltikum und Wolhynien auch heute noch als vernachlässigtes Thema zu bezeichnen.

Das „Aufmarsch- und Kampfgebiet im Osten“ galt bisweilen als „Regenerationsraum verwundeter Westkämpfer“. Darüber hinaus führte der Mangel an kanonisierten Erinnerungen zur Aufsplitterung in unterschiedliche Sichtweisen und Wahrnehmungen. Die Kämpfe an der Westfront wurden hingegen als die entscheidenden Gefechte des Krieges angesehen. Hier, und nicht im Osten, verortete man den „modernen Maschinenkrieg“. Auf den Schlachtfeldern Belgiens und Frankreichs erschien das „große Kräftemessen“ gleichermaßen schrecklich und kompakt, indem es sich im Wesentlichen auf den Grabenkampf und den Stellungskrieg konzentrierte.

Das für die Kriegserinnerung immer wichtiger werdende visuelle Gedächtnis verstärkte diesen Eindruck erstmals besonders effektvoll mit dem Kinoklassiker „Im Westen nichts Neues“ aus dem Jahr 1930, der auf dem gleichnamigen Roman Erich Maria Remarques basierte. Im Gegensatz dazu hatten die Gefechte zwischen der Zarenarmee und den Verbänden der Mittelmächte, von einigen Ausnahmen abgesehen, schon bis 1918 in der k. u. k. (Bild-)Propaganda eine immer geringere Rolle gespielt: Fotosammlungen stellen mit Lücken und abweichenden thematischen Gewichtungen die ersten Kriegsjahre dar. Das staatliche Filmschaffen organisierte sich erst langsam und berichtete vornehmlich über die Geschehnisse in Frankreich und Italien. Der „Visualisierung der Ostfront“ standen zwei wesentliche Barrieren im Weg: Die organisatorische Entwicklung und thematische Schwerpunktsetzung der Bildpropaganda einerseits und das nachlassende Interesse des Publikums andererseits, das sich an der Marginalisierung des Krieges in der Spielfilmproduktion ablesen lässt.

Auf lange Sicht führte der Untergang der Habsburger- und Romanowmonarchie zur bewussten Ausblendung der Kämpfe, die im Gebiet zwischen dem Baltikum und dem Schwarzen Meer stattfanden. Die Sowjetführung ersetzte gezielt die umfassendere Auseinandersetzung mit den Geschehnissen von 1914 bis 1917/18 durch die Idealisierung und Verfälschung der bolschewistischen Machtergreifung; der nostalgische Blick auf die „gute alte Zeit“ war in Österreich wiederum kulturell konnotiert, an Klischees orientiert und hauptsächlich als seichte Unterhaltungsform ohne politisch-militärische Akzente gebilligt. Beide Mythenstränge, der der Habsburger und der des „Roten Oktober“, kamen weitgehend ohne Ersten Weltkrieg aus.

Freilich ist nun vielerorts ein Umdenken zu erkennen. In Russland wird etwa seit einiger Zeit die Errichtung von Denkmälern erwogen, um speziell an die gefallenen Soldaten des letzten Krieges der Romanowdynastie zu erinnern. Hinzu kommt ein verstärktes Interesse der internationalen Forschung. Abgesehen von einer großen, 2004 in Berlin veranstalteten Konferenz und der darauf folgenden Publikation eines Sammelbandes über die „vergessenen“ Kampfschauplätze der Habsburger-, Hohenzollern- und Zarenarmee, wandten sich auch wichtige englischsprachige Veröffentlichungen in detailreichen Darstellungen den bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen der Ostsee und dem Schwarzen Meer zu.

Bibliografie 

Groß, Gerhard Paul (Hrsg.): Die vergessene Front – der Osten 1914-15. Ereignis, Wirkung, Nachwirkung, Paderborn/München/Wien 2006

Neiberg, Michael/Jordan, David (Hrsg.): The Eastern Front 1914-1920. From Tannenberg to the Russo-Polish War, London 2008

Rott, Irving G.: Battles East. A History of the Eastern Front of the First World War, Baltimore 2007

Inhalte mit Bezug zu diesem Kapitel

Aspekt

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    Nach dem Krieg

    Mit dem Ersten Weltkrieg ging das „lange 19. Jahrhundert“ zu Ende. An die Stelle der monarchischen Imperien traten neue politische Player. Die k. u. k. Monarchie zerfiel in einzelne Nationalstaaten. Im November 1918 wurde die Republik Deutschösterreich proklamiert, im Oktober 1920 Österreich als Bundesstaat errichtet. Die Jahre nach dem Krieg waren überaus bewegt: Sie changierten in einem Spannungsverhältnis von Aufbruch und Niederlage, zwischen politischen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Errungenschaften und Rückschlägen.

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