Charakteristika der Kriegsführung an der russischen Front
Der Krieg im Osten Europas war immer wieder von beachtlichen Geländegewinnen gekennzeichnet, obwohl die Geografie, das Klima und die Weite des Landes groß angelegte Angriffsoperationen genauso erschwerten wie die rudimentäre Motorisierung, das mangelhafte Wegenetz und die andauernden Nachschub-, Versorgungs- und Kommunikationsprobleme.
Zwischen dem Baltikum und dem Schwarzen Meer ist der Großteil des Geländes zwar nur leicht hügelig oder eben, dennoch sollten die Pripjet-Sümpfe südlich von Minsk und nördlich von Wolhynien sowie die Karpaten im polnischen und ungarischen Grenzgebiet militärische Operationen beträchtlich erschweren. Hinzu kamen die schlecht entwickelten Straßen- und Eisenbahnnetze.
Im Gegensatz dazu begünstigten jedoch manche Faktoren die Angriffsaktivitäten. Boden- und Witterungsverhältnisse beeinträchtigten den Stellungsbau, im riesigen Kampfgebiet wurden zudem weniger Truppen eingesetzt als im Westen. Speziell das Romanow- und das Habsburgerimperium konnten das Potenzial ihrer wehrfähigen Männer aus organisatorischen und finanziellen Gründen nicht voll ausschöpfen. Die Zarenarmee war mit fünf Millionen Mann im Sommer 1914 nicht größer als das Heer des Hohenzollernreiches, obwohl Russland wesentlich mehr Einwohner hatte. Und die k. u. k. Streitkräfte brachten es überhaupt nur auf halb so viele Divisionen wie die Deutschen.
Die Hohenzollerntruppen stellten daher einen wichtigen Machtfaktor dar in einem Gebietsstreifen, der sich nach dem Kriegseintritt Rumäniens im August 1916 über 1.600 Kilometer erstreckte, keine durchgehende Frontlinie wie im Westen bildete und weniger Soldaten aufnahm als die Schlachtfelder Belgiens und Frankreichs. Schon im Winter 1915/16 traten diese Charakteristika deutlich zu Tage: Das Romanowimperium brachte es damals auf eine Truppendichte von 1.200 Soldaten pro Frontkilometer, während Russlands Alliierte an der Westfront auf der gleichen Länge über 2.100 einsetzten. Weiteren Berechnungen zufolge gab es hier auch um zwei Drittel mehr Gewehre als auf den Kampfschauplätzen der Zarenarmee.
Unter solchen Umständen herrschte „im Osten“ ein „Bewegungskrieg“, der sich in mehrere Phasen einteilen lässt: Die russischen Offensiven in Ostpreußen und Galizien; im Wesentlichen missglückte Unternehmen vom Oktober 1914 bis zum März 1915; der Rückzug der Zarenarmee aus Russisch-Polen und Galizien ab Mai 1915; gescheiterte russische Vorstöße zur Jahreswende 1915/16 in Ostgalizien und Weißrussland; der Erfolg der so genannten „Brussilow-Offensive“ gegenüber österreichisch-ungarischen Verbänden sowie der Kriegseintritt Rumäniens und dessen nachfolgende Niederlage im Jahr 1916; die „Kerenskij-Offensive“ beziehungsweise die Russische Revolution und die großen Gebietsgewinne der Mittelmächte vor und mit dem Frieden von Brest-Litowsk; Bürgerkriege beziehungsweise Kämpfe zwischen Interventionsmächten; nationalen Bewegungen und neuen Staaten im Gefolge des Zusammenbruchs der alten Monarchien Mittel- und Osteuropas bis zum Ende des polnisch-sowjetischen Krieges 1921.
Dowling, Timothy C.: The Brusilov Offensive, Bloomington 2008
Neiberg, Michael/Jordan, David (Hrsg.): The Eastern Front 1914–1920. From Tannenberg to the Russo-Polish War, London 2008
Rauchensteiner, Manfried: Der Erste Weltkrieg und das Ende der Habsburgermonarchie, Wien/Köln/Weimar 2013
Rott, Irving G.: Battles East. A History of the Eastern Front of the First World War, Baltimore 2007
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Kapitel
- „Die vergessene Front“ – Die lange Vernachlässigung und das neue Interesse am „Osten“
- Charakteristika der Kriegsführung an der russischen Front
- Folgen der Offensiven und Geländegewinne
- Krieg gegen die eigene Bevölkerung
- Die Eröffnungsfeldzüge
- Die Katastrophe der Zarenarmee
- „Ein letztes Aufbäumen“ Russlands
- Die russische Revolution und der fragile Frieden im „Osten“
- Okkupation
- Gewalt ohne Ende