„Rücktransport“ aus der Gefangenschaft

Die Heimkehr Hunderttausender Kriegsgefangener fand gegen und nach dem Ende des Ersten Weltkrieges unter revolutionären Rahmenbedingungen statt. Reguläre Evakuierungsmethoden waren im Gefolge der Umwälzungen in Mittel- und Osteuropa schwer durchführbar. Hinzu kam das Misstrauen der Heimatländer gegenüber den Gefangenen. Abwehrmaßnahmen wurden getroffen, die ebenfalls für Konfliktstoff sorgten.

Obwohl die Mittelmächte im Zuge der Friedensvereinbarungen mit den Bolschewiki in Brest-Litowsk (am 3. März 1918) möglichst wenige russische Gefangene freilassen, aber umso mehr eigene Soldaten zurückholen wollten, waren Letztere weder in Deutschland noch in Österreich-Ungarn besonders willkommen. Das k. u. k. Kriegsministerium errichtete deshalb gemeinsam mit dem Armeeoberkommando Lager zur Überwachung und Disziplinierung jener knapp 700.000 Männer, die bis zur zweiten Oktoberhälfte 1918 oft auf Schleichwegen und seltener mittels regulärer Transporte die Linien der eigenen Streitkräfte erreichten. Der alles andere als herzliche Empfang, die allgemeine Kriegsmüdigkeit sowie die soziale und ökonomische Krise, weniger aber die sowjetischen „Umsturzideen“ waren in der Folge für mehrere Meutereien unter den ehemaligen Kriegsgefangenen verantwortlich.

In der Zwischenzeit betrachteten antibolschewistische, „weiße“ Regierungen und die mit ihnen verbündeten alliierten Großmächte rund eine halbe Million Soldaten der Mittelmächte weiterhin als ihre Gefangenen, zumal sie die Brester Vertragsbestimmungen nicht anerkannten. Eine entsprechende Erklärung vom 23. Oktober 1918 stammte von der „Allrussischen Regierung in Omsk“. Wenige Tage später, am 3. November, wurden zirka 360.000 Soldaten der Habsburgerarmee nach Kommunikationsproblemen infolge der Waffenstillstandverhandlungen von den italienischen Streitkräften gefangen genommen.

Während in den kommenden Monaten viele Entente-Soldaten, die sich in Gewahrsam der untergegangenen Imperien der Habsburger und Hohenzollern befunden hatten, repatriiert wurden oder auf eigene Faust den Heimweg antraten, dauerte es bei den Verlierern des Ersten Weltkrieges länger. Nach entsprechenden Vereinbarungen mit den Westmächten stellte sich schließlich vor allem Russland als Problembereich dar.

Erschwerend kam hinzu, dass die Unruhen im Donauraum, die Errichtung kurzfristiger Räterepubliken in Bayern und Ungarn sowie die Konflikte zwischen den Nachfolgestaaten der Donaumonarchie Repatriierungsaktionen behinderten. Vielerorts skeptisch erwartete man auch den Rückstrom bolschewistisch beeinflusster Heimkehrer aus den Gebieten des früheren Zarenreiches.

Eine endgültige Lösung der Repatriierungsproblematik ließ sich mit Hilfe des Rotes Kreuzes und des Völkerbundes sowie durch länderübergreifende Kooperationen erreichen. Dem Einlenken Sowjetrusslands, das seine Gegner in den meisten Regionen des vormaligen Romanowimperiums besiegt hatte und zu Beginn der 1920er Jahre mit verschiedenen europäischen Staaten, darunter auch die Republik Österreich, bilaterale Abkommen schloss, kam schließlich eine besonders große Bedeutung zu.

Unter solchen Bedingungen kehrten zunächst 1919 insgesamt 100.000 „Neuösterreicher“, also Bürger der jungen Ersten Republik, vorwiegend aus Italien zurück. Zwischen Jänner 1920 und März 1922 kamen dann knapp 120.000 frühere k. u. k. Soldaten aus dem sowjetischen Machtbereich zurück, davon rund 25.000 „Neuösterreicher“. Seitens der Wiener Regierung betrachtete man die Rückführung der Kriegsgefangenen damit als beendet. Die Betreuung einiger Spätheimkehrer oblag ab 1922/23 dem Innenministerium beziehungsweise in weiterer Folge dem Bundeskanzleramt.

Bibliografie 

Leidinger, Hannes/Moritz, Verena: Die Repatriierung der k. u. k. Kriegsgefangenen 1918 bis 1922, in: Politicum, 28. Jg., Nov. 2007, 102: 1918 – Der Beginn der Republik, 53-56.

Inhalte mit Bezug zu diesem Kapitel

Aspekt

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    Nach dem Krieg

    Mit dem Ersten Weltkrieg ging das „lange 19. Jahrhundert“ zu Ende. An die Stelle der monarchischen Imperien traten neue politische Player. Die k. u. k. Monarchie zerfiel in einzelne Nationalstaaten. Im November 1918 wurde die Republik Deutschösterreich proklamiert, im Oktober 1920 Österreich als Bundesstaat errichtet. Die Jahre nach dem Krieg waren überaus bewegt: Sie changierten in einem Spannungsverhältnis von Aufbruch und Niederlage, zwischen politischen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Errungenschaften und Rückschlägen.

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    Gewalt im Krieg

    Gewalt war im Ersten Weltkrieg ein gesellschaftlich umfassendes Phänomen. Soldaten, Zivilisten, Frauen, Männer, Kinder und Greise waren auf die eine oder andere Weise mit ihr konfrontiert. Wie man Gewalt erlebte war unterschiedlich: Sie wurde ausgeübt und erlitten, sie war von physischer und psychischer Prägung, sie fand auf struktureller wie individueller Ebene statt, man erfuhr sie direkt oder indirekt.

Personen, Objekte & Ereignisse

  • Objekt

    Heimkehr

    Im November 1920 erscheint im „Neuigkeits-Welt-Blatt“ ein Bericht über die glückliche Heimkehr aller sieben Brüder der Familie Baumgartner. Sechs Brüder waren bereits unmittelbar nach Kriegsende unbeschadet von der Front zurückgekehrt, während Otto Baumgartner nach fünfjähriger Kriegsgefangenschaft im Jahre 1920 in Wien eintrifft. Ob verwundet oder unversehrt, aus feindlichem Gewahrsam oder nicht, waren Heimkehrer vor die Schwierigkeiten der Wiedereingliederung in die zivile Nachkriegswelt gestellt.

  • Objekt

    Kriegsgefangenschaft

    Im Mai 1916 schickt Anton Baumgartner eine Kriegsgefangenenpostkarte an seinen Sohn Otto im Gefangenenlager Nowo Nikolajewsk in Sibirien (heute Nowosibirsk). Otto Baumgartner ist nur einer von hunderttausenden Soldaten, die sich im Ersten Weltkrieg in feindlichem Gewahrsam befanden. Gemessen an der Gesamtstärke der jeweiligen Armeen geriet jeder dreizehnte Reichsdeutsche, jeder zehnte Franzose und Italiener, jeder fünfte Angehörige des zarischen Heeres und schließlich fast jeder Dritte der habsburgischen Streitkräfte im Laufe der Kampfhandlungen des Krieges in Gefangenschaft.

  • Objekt

    Auf der (Fahnen)Flucht

    Desertion war ein Phänomen, das die Armeen im Ersten Weltkrieg alle vier Jahre lang begleitete – so auch die multinationale Habsburgerarmee. Diese amtliche Kundmachung aus dem Jahr 1915 thematisiert in drei Sprachen (Ungarisch, Deutsch und Serbisch) Fälle von Desertion durch Kriegsgefangene und deren „absichtliche“ Unterstützung durch die heimische Zivilbevölkerung. Diese wird – als „Verbrechen gegen Heereslieferungen“ – unter „unerbittlich[e]“ Bestrafung gestellt