Nationale Propaganda unter Kriegsgefangenen
Vielvölkerreiche durch die Unterstützung nationaler Oppositionsbewegungen zu schwächen, gehörte zu den Strategien vieler kriegführender Mächte. Dass auch die multiethnischen Monarchien der Romanows und der Habsburger selbst derartige Methoden anwandten, erwies sich jedoch als gefährliches Spiel.
Deutschland versuchte Russland auf mehreren Ebenen zu destabilisieren. Berlin wollte eroberte Gebiete teilweise unter dauerhafte direkte Kontrolle bringen. Darüber hinaus bediente man sich bisweilen auch der Minderheiten in den Grenzzonen. Unter anderem verfolgte man damit das Ziel, Pufferstaaten gegen ein verkleinertes Romanowimperium zu errichten. Einheimische Regimegegner beziehungsweise sozialrevolutionäre Kräfte wurden außerdem dazu eingesetzt, auch die Zentren des Zarenreiches in Unruhe zu versetzen.
Die nationale Propaganda unter Kriegsgefangenen gehörte ebenfalls zu diesen Maßnahmen. Abgesehen von der Zusammenfassung muslimischer Soldaten der russischen Armee, die aus der Kriegsgefangenschaft entlassen und dem verbündeten Osmanischen Reich als Verstärkung zur Verfügung gestellt werden sollten, konzentrierten sich das Hohenzollernreich und die Donaumonarchie speziell auf die „separatistische Propaganda“ unter den gefangenen Georgiern, Weißrussen, Ukrainern und Polen. Sie sollten in eigenen Lagern untergebracht werden, sich nach entsprechender Schulung gegen St. Petersburg erheben, Aufstandsaktionen vorbereiten oder zumindest eigene nationale Truppen als Teil der deutschen und österreichisch-ungarischen Streitmacht bilden.
Derartige Bemühungen erwiesen sich aber als problematisch. Ein von den Mittelmächten Ende 1916 proklamiertes Königreich Polen verfügte noch über keine klar definierten Befugnisse und fest umrissenen Territorien. Die Einheimischen blieben distanziert, die von ihnen aufgestellten Legionen wollten sich nicht auf Dauer zu Hilfskorps der Deutschen und Österreicher machen lassen. Überdies hatten sich mehrere Monate hindurch die Betroffenen in den Internierungsorten aufgehalten, ohne zu erfahren, was weiter mit ihnen geschehen würde. Ein aus dem Zarenheer stammender polnischer Gefangener schrieb in Anbetracht dessen an seine Familie: „Nach Hause lassen sie niemanden und man weiß nicht, wie das enden wird, ausser, dass wir Hungers sterben …“ Im März 1917 wurde auf „allerhöchsten Befehl“ von Kaiser Karl die Werbetätigkeit unter den polnischen Kriegsgefangenen eingestellt, nachdem es an den Unterbringungsorten zu Versorgungsengpässen und zahlreichen Fluchtversuchen gekommen war.
Mit etlichen Unwägbarkeiten hatte man auch bei der Beeinflussung von ukrainischen Angehörigen der Zarenarmee zu rechnen. Exilorganisationen, denen man die „Aufklärung“ der Männer übertrug, entpuppten sich vielfach als stark sozialistisch geprägte Vereinigungen. Ihre Vorstellungen passten daher kaum zu den konstitutionell-monarchischen Prinzipien der Berliner und Wiener Entscheidungsträger. Außerdem musste eine unabhängige Ukraine, ebenso wie die Schaffung eines polnischen Staates, Rückwirkungen auf die rivalisierenden Ethnien Galiziens haben und die bisherigen Grenzen der Donaumonarchie infrage stellen.
Auf „nationale Separation“ hatten es Militärs im Romanowimperium inzwischen ebenfalls abgesehen. In speziellen Lagern bot man slawischen „Untertanen“ des Habsburgerreiches, die als k. u. k. Soldaten in russische Gefangenschaft geraten waren, gewisse Vorteile und Vergünstigungen. Ganz allgemein bemühte sich St. Petersburg, Ungarn, Deutschösterreicher und Reichsdeutsche in entfernte Regionen Sibiriens und Turkestans zu verschicken, während Tschechen, Slowaken, Slowenen, Serben und Kroaten eher im europäischen Teil Russlands bleiben sollten.
Solche Maßnahmen wurden allerdings keinesfalls rigoros angewendet. Ebenso wenig energisch betrieb man die Werbung für nationale Kampfverbände. Eine verstärkte Werbetätigkeit setzte erst nach dem Sturz des Zaren ein. Nun entwickelte sich speziell die Tschechoslowakische Legion zu einer bedeutenden Streitmacht. Im Gefolge der „Oktoberrevolution“ spielte sie dann aber eine unerwartete Rolle – als Speerspitze der alliierten Interventionstruppen und der innerrussischen Gegenrevolution – im Kampf zwischen den Gegnern und Befürwortern des neuen Sowjetregimes.
Leidinger, Hannes/Moritz, Verena: Gefangenschaft, Revolution, Heimkehr. Die Bedeutung der Kriegsgefangenenproblematik für die Geschichte des Kommunismus in Mittel- und Osteuropa 1917–1920, Wien/Köln/Weimar 2003
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Kapitel
- Zahlen und Dimensionen der Kriegsgefangenenproblematik
- Gefangennahme
- Die Situation der Kriegsgefangenen in Österreich-Ungarn
- Humanitäre Katastrophen in der Gefangenschaft
- Hilfsmaßnahmen für Kriegsgefangene
- Nationale Propaganda unter Kriegsgefangenen
- Das Verhältnis der Kriegsgefangenen zur Zivilbevölkerung
- Die Bedeutung der Gefangenenarbeit
- Zeugen und Akteure der Revolution
- „Rücktransport“ aus der Gefangenschaft
- Schwierige Heimkehr