Zeugen und Akteure der Revolution

Das Ende der Zarenherrschaft und den „Oktoberumsturz“ verbanden die Kriegsgefangenen in Russland vor allem mit der Hoffnung auf eine baldige Heimkehr. Den ideologischen Botschaften der Bolschewiki standen jene Soldaten, welche die Entstehung der Sowjetmacht und somit eine weltgeschichtliche Wende hautnah miterlebten, allerdings meist weniger positiv gegenüber.

Die Friedensparolen der Bolschewiki beeindruckten viele deutsche und österreichisch-ungarische Soldaten, die sich auf dem Territorium des ehemaligen Zarenreiches aufhielten. Aktiv an der Machtergreifung Lenins im Oktober beziehungsweise November 1917 hatten sich aber nur verhältnismäßig wenige Kriegsgefangene beteiligt.

Die nachfolgende Gefangenenpolitik der Sowjetregierung erwies sich als doppelbödig. Erklärte sie die „ausländischen Werktätigen“ einerseits für frei, so ließ sie die Vorzüge neuer Bestimmungen andererseits lediglich für jene gelten, die mit dem neuen Regime sympathisierten. Eine vor allem gegen Offiziere gerichtete Politik trug den Klassenkampf in die Lager und an die Arbeitsstätten der früheren Feindsoldaten.

Insgesamt wurden die „Fremden“ in Lenins Herrschaftsbereich schließlich eher als Unsicherheitsfaktor angesehen. Mit der sich auflösenden alten Zarenarmee betrachteten viele russische Heimkehrer die Gefangenen als Konkurrenten am Arbeitsplatz. Zudem gingen die Bolschewiki, die sich bald Kommunisten nannten, auf Distanz zu den eigenen Freiheitsproklamationen. Dementsprechend versuchte die KP, die die junge Sowjetrepublik bald in eine Einparteiendiktatur verwandelte, das „unkontrollierte Herumziehen“ der Kriegsgefangenen zu unterbinden.

Ihrer Repatriierung stellten die Bolschewiki hingegen keine größeren Hindernisse in den Weg. Allerdings bemühte man sich noch um eine weltanschauliche Indoktrinierung, um die Heimkehrer zu Überträgern eines „Bazillus des Bolschewismus“ zu machen, wie sich Lenin ausdrückte. Das Gros der ehemaligen Gefangenen zeigte sich davon jedoch unbeeindruckt, in ihren Herkunftsländern führten sie nicht den erwarteten Umsturz nach dem Vorbild der Russischen Revolution herbei.

Letztlich verliefen die Evakuierungsmaßnahmen für die Bolschewiki sogar äußerst nachteilig. Permanente Reibereien zwischen den Sowjetorganen und den abziehenden Tschechoslowakischen Legionären mündeten nämlich in einen offenen Konflikt. Der „tschechische Aufstand“ begünstigte antikommunistische Kräfte in Russland und hatte einen erheblichen Einfluss auf die sowjetfeindliche Intervention ausländischer Mächte.

Hunderttausende Kriegsgefangene konnten aufgrund dieser Geschehnisse nicht mehr rechtzeitig abtransportiert werden. Ungewollt verblieben sie speziell in Sibirien, wo es – ebenso wie in anderen Regionen des vormaligen Zarenreiches – zu blutigen Gefechten zwischen Befürwortern und Gegnern Lenins kam. Viele deutsche und österreichisch-ungarische Soldaten wurden solcherart Zeugen der bewaffneten Auseinandersetzungen und der katastrophalen Wirtschaftskrise auf dem Boden des ehemaligen Romanowimperiums.

Auf diese Weise erlebten viele Heeresangehörige der Mittelmächte die Revolution als Schreckensperiode. Dass sich eine Minderheit von ihnen – schätzungsweise einige Zehntausend – zu der im Aufbau befindlichen Roten Armee meldete, lag wohl nicht selten an der versprochenen Verpflegung durch das Militär. Lediglich eine kleine Zahl überzeugter KP-Kaderfunktionäre aus den Reihen der Kriegsgefangenen hielt vorbehaltlos zu den Bolschewiki. Sie traten den sowjetischen Sicherheitsorganen beziehungsweise den ausländischen Gruppen bei der russischen KP bei, stellten das Gründungspersonal der III. Internationale und schufen in ihren Heimatländern linksradikale, kommunistische und prosowjetische Vereinigungen.

Bibliografie 

Leidinger, Hannes/Moritz, Verena: Gefangenschaft, Revolution, Heimkehr. Die Bedeutung der Kriegsgefangenenproblematik für die Geschichte des Kommunismus in Mittel- und Osteuropa 1917–1920, Wien/Köln/Weimar 2003

Mohr, Joan McGiure: The Czech and Slovak Legion in Siberia, 1917–1922, Jefferson et al. 2012

Inhalte mit Bezug zu diesem Kapitel

Aspekt

  • Aspekt

    Gewalt im Krieg

    Gewalt war im Ersten Weltkrieg ein gesellschaftlich umfassendes Phänomen. Soldaten, Zivilisten, Frauen, Männer, Kinder und Greise waren auf die eine oder andere Weise mit ihr konfrontiert. Wie man Gewalt erlebte war unterschiedlich: Sie wurde ausgeübt und erlitten, sie war von physischer und psychischer Prägung, sie fand auf struktureller wie individueller Ebene statt, man erfuhr sie direkt oder indirekt.

Personen, Objekte & Ereignisse

  • Objekt

    Revolutionäre Bewegungen, Streikbewegungen

    Die Umstellung der Produktionsstätten auf Kriegswirtschaft und der Einsatz der Männer an der Front bedingte, dass zunehmend Frauen in zuvor typischen Männerberufen, wie beispielsweise in Betrieben der Rüstungsindustrie, beschäftigt wurden. Frauen mussten auch die Versorgung ihrer Familien übernehmen und reagierten daher auch als Erste mit Protestaktionen auf die zunehmend prekäre Ernährungslage und auf extrem schlechte Arbeitsbedingungen in den Betrieben.

  • Objekt

    Heimkehr

    Im November 1920 erscheint im „Neuigkeits-Welt-Blatt“ ein Bericht über die glückliche Heimkehr aller sieben Brüder der Familie Baumgartner. Sechs Brüder waren bereits unmittelbar nach Kriegsende unbeschadet von der Front zurückgekehrt, während Otto Baumgartner nach fünfjähriger Kriegsgefangenschaft im Jahre 1920 in Wien eintrifft. Ob verwundet oder unversehrt, aus feindlichem Gewahrsam oder nicht, waren Heimkehrer vor die Schwierigkeiten der Wiedereingliederung in die zivile Nachkriegswelt gestellt.

  • Objekt

    Kriegsgefangenschaft

    Im Mai 1916 schickt Anton Baumgartner eine Kriegsgefangenenpostkarte an seinen Sohn Otto im Gefangenenlager Nowo Nikolajewsk in Sibirien (heute Nowosibirsk). Otto Baumgartner ist nur einer von hunderttausenden Soldaten, die sich im Ersten Weltkrieg in feindlichem Gewahrsam befanden. Gemessen an der Gesamtstärke der jeweiligen Armeen geriet jeder dreizehnte Reichsdeutsche, jeder zehnte Franzose und Italiener, jeder fünfte Angehörige des zarischen Heeres und schließlich fast jeder Dritte der habsburgischen Streitkräfte im Laufe der Kampfhandlungen des Krieges in Gefangenschaft.