An der Ostfront fielen wesentlich mehr Soldaten in die Hände feindlicher Truppen als an anderen Kriegsschauplätzen. Welche Gründe waren dafür ausschlaggebend? Wurden etwa die Angehörigen der Habsburgerarmee früher vom Kampfgeschehen „demoralisiert“? Oder veranlasste sie gar die mangelnde Loyalität gegenüber der Donaumonarchie, die Seite zu wechseln?
Vom Gegner überwältigt zu werden galt im martialischen Denken bis 1914 vor allem dann als unrühmlich, wenn die Betroffenen unverletzt die Waffen streckten. Auf sie warteten in der Heimat Untersuchungsverfahren sowie nicht selten die Verachtung ihrer Landsleute, die den Gefangenen vorwarfen, Feiglinge oder gar Vaterlandsverräter zu sein.
Demgemäß bemühten sich Kriegsteilnehmer, die sich für eine gewisse Zeit in der Hand des Feindes befanden, derartige Anschuldigungen zu entkräften. Durchaus den Tatsachen entsprechend, schilderten gerade Offiziere in ihren Erinnerungen, dass sie bisweilen mehrere Fluchtversuche unternommen hatten, um in die Heimat zu gelangen.
Abgesehen davon wurde betont, dass das Einstellen der Kampfhandlungen in hektischen Gefechtssituationen lebensgefährlich war und sich Tötungen von Soldaten nach der Gefangennahme ereigneten. Zu grausamen Szenen kam es vor allem aufgrund weit verbreiteter Erzählungen über Feinde, die sich nur zum Schein ergeben und nach ihrer vermeintlichen Kapitulation zu ihren Gewehren gegriffen hätten. Im Gegensatz zu Offizieren, die in der Regel eine korrekte Behandlung erwarten durften, mussten Mannschaftsangehörige auch nach der Gefangennahme und den ersten Verhören durch die gegnerischen Truppen mit Gewalttätigkeiten rechnen.
Solcherart mag es nicht überraschen, dass eine Kapitulation für viele Frontkämpfer nicht infrage kam und etwa die britischen Streitkräfte bis Ende 1916 auf den französischen Schlachtfeldern vergleichsweise wenige Soldaten der Hohenzollernarmee in ihren Gewahrsam brachten. Wohl stieg die Zahl der Kriegsgefangenen auch mit den Abnützungsschlachten im Westen, im Osten aber waren die Verluste durch Gefangennahmen wesentlich höher. Machte ihr Anteil in den Statistiken bei den Franzosen zwölf, bei den Deutschen neun und bei den Briten sieben Prozent aus, so waren es bei den Angehörigen der Zaren- und der Habsburgerarmee in Summe weit mehr als 30 Prozent.
Speziell im Heer der multiethnischen Donaumonarchie ortete man angesichts solcher Zahlen einen geringeren Kampfeswillen und eine größere Neigung zum Überlaufen. Statistiken können solche Vermutungen jedoch nicht bestätigen. Der Anteil der einzelnen Nationalitäten an den in Russland befindlichen k. u. k. Heeresangehörigen entspricht mit leichten Schwankungen dem Prozentsatz der einzelnen „Völker“ in Österreich-Ungarn und insbesondere in den habsburgischen Streitkräften. Die vielfach als unverlässlich bezeichneten Tschechen waren unter den Kriegsgefangenen im Zarenreich sogar unterrepräsentiert.
Dass die hohe Zahl der dort festgehaltenen Magyaren etwas über ihrem Gesamtanteil an der k. u. k. Armee lag, ließ sich vor allem auf die Zusammensetzung der Habsburgertruppen an der „russischen Front“ zurückführen. Hier fielen eingekesselte und geschlagene Kampfverbände wiederholt geschlossen in die Hände des Gegners, und deshalb gerieten auch entsprechend mehr ungarische Soldaten in Gefangenschaft.
Ferguson, Niall: Der falsche Krieg. Der Erste Weltkrieg und das 20. Jahrhundert, Stuttgart 1999
Leidinger, Hannes/Moritz, Verena: Gefangenschaft, Revolution, Heimkehr. Die Bedeutung der Kriegsgefangenenproblematik für die Geschichte des Kommunismus in Mittel- und Osteuropa 1917–1920, Wien/Köln/Weimar 2003
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Kapitel
- Zahlen und Dimensionen der Kriegsgefangenenproblematik
- Gefangennahme
- Die Situation der Kriegsgefangenen in Österreich-Ungarn
- Humanitäre Katastrophen in der Gefangenschaft
- Hilfsmaßnahmen für Kriegsgefangene
- Nationale Propaganda unter Kriegsgefangenen
- Das Verhältnis der Kriegsgefangenen zur Zivilbevölkerung
- Die Bedeutung der Gefangenenarbeit
- Zeugen und Akteure der Revolution
- „Rücktransport“ aus der Gefangenschaft
- Schwierige Heimkehr