Humanitäre Katastrophen in der Gefangenschaft

Schon das Warten auf den Sammelplätzen und der Abtransport in das Hinterland waren für die vielfach hungernden und oft verwundeten Gefangenen mit ungeheuren Strapazen und Leiden verknüpft. An den Zielorten im Hinterland fehlte es vor allem anfangs an zumutbaren Quartieren. Die Lager in Mittel- und Osteuropa, Sibirien und Zentralasien wurden Schauplätze des Massenelends und des Massensterbens. Österreich-Ungarn bildete dabei keine Ausnahme.

Während bei den Engländern die Unterbringung von insgesamt rund 200.000 Feindsoldaten im Wesentlichen den völkerrechtlichen Bestimmungen entsprach, häuften sich Beschwerden über entsprechende Quartiere für mindestens doppelt so viele Staatsbürger der Mittelmächte in Frankreich.

Je mehr Soldaten gefangen genommen wurden, desto schwieriger wurde ihre Verwaltung durch die Militärbehörden. In Frontnähe mangelte es an Nahrungsmitteln und Behausungen, in Viehwaggons wurden sie schließlich ohne entsprechenden Schutz vor extremen Witterungsverhältnissen vom Kampfschauplatz abtransportiert. Auf der Fahrt zu den Internierungsorten waren angesichts der Unzulänglichkeiten neuerlich Todesfälle zu beklagen; die Missstände wurden am Ziel der beschwerlichen Reise keineswegs behoben.

In den provisorisch errichteten und überfüllten Quartieren breiteten sich Infektionskrankheiten aus. Im deutschen Brandenburg zum Beispiel erkrankten zum Jahreswechsel 1914/15 von 9.700 Gefangenen 7.100 an Fleckfieber. Erschreckende Mortalitätsraten verzeichnete man indes im Romanowimperium. In Novo Nikolaevsk kamen im Winter 1915 80 Prozent und in Tockoe im Militärkreis Kazan bis März 1916 60 Prozent der Gefangenen um. Alles in allem sollen im Zarenreich zwischen 1914 und 1917 mehrere hunderttausend Soldaten der Mittelmächte gestorben sein.

Mitarbeiter der k. u. k. Heeresverwaltung versuchten demgegenüber noch lange nach dem Ende des Ersten Weltkrieges, die Lage in der Donaumonarchie zu beschönigen. In Wirklichkeit handelte es sich bei der propagierten „besseren Gefangenschaft“ in nahezu „idyllischen Barackenstädtchen“ um ein Zerrbild. Nach groben Schätzungen dürften nämlich in Österreich-Ungarn bis 1918 mehr als 100.000 von etwa einer Million Russen und circa ein Drittel aller Serben ihr Leben verloren haben. Horrende Zahlen existieren auch bezüglich der rund 600.000 im Gewahrsam der Mittelmächte befindlichen Italiener, von denen mehr als zwei Drittel im Habsburgerreich untergebracht waren. Nach jüngeren, allerdings nicht unumstrittenen Untersuchungen fiel etwa ein Sechstel von ihnen den schlechten Lebensbedingungen zum Opfer. Kriegsgefangene machten demnach ein Viertel aller Kriegstoten des Apenninenkönigreiches aus.

Die hohe Sterblichkeit spiegelte in erster Linie die organisatorischen Schwächen und Fehleinschätzungen der zuständigen Behörden wider, aber auch eine schwierige und sich zunehmend verschlechternde Versorgungslage in den kriegführenden Ländern und insbesondere in Zentral- und Osteuropa. Dennoch trugen Feindbilder ebenfalls zu den katastrophalen Verhältnissen bei: Westeuropäische Gefangene wurden für gewöhnlich von ihren Heimatländern besser unterstützt. Russland und speziell Italien misstrauten hingegen den bisweilen als Defätisten gebrandmarkten „Landsleuten in Feindeshand“. Auf österreichisch-ungarischer Seite wiederum machte sich ein kultureller Hochmut gegenüber dem „slawischen Osten“ ebenso negativ bemerkbar wie der spürbare Hass gegen die Erzfeinde „Italien“ und „Serbien“.

Bibliografie 

Leidinger, Hannes/Moritz, Verena: Gefangenschaft, Revolution, Heimkehr. Die Bedeutung der Kriegsgefangenenproblematik für die Geschichte des Kommunismus in Mittel- und Osteuropa 1917–1920, Wien/Köln/Weimar 2003

Oltmer, Jochen (Hrsg.): Kriegsgefangene im Europa des Ersten Weltkriegs, Paderborn/München/Wien 2006

Inhalte mit Bezug zu diesem Kapitel

Aspekt

  • Aspekt

    Gewalt im Krieg

    Gewalt war im Ersten Weltkrieg ein gesellschaftlich umfassendes Phänomen. Soldaten, Zivilisten, Frauen, Männer, Kinder und Greise waren auf die eine oder andere Weise mit ihr konfrontiert. Wie man Gewalt erlebte war unterschiedlich: Sie wurde ausgeübt und erlitten, sie war von physischer und psychischer Prägung, sie fand auf struktureller wie individueller Ebene statt, man erfuhr sie direkt oder indirekt.

Personen, Objekte & Ereignisse

  • Objekt

    Kriegsgefangenschaft

    Im Mai 1916 schickt Anton Baumgartner eine Kriegsgefangenenpostkarte an seinen Sohn Otto im Gefangenenlager Nowo Nikolajewsk in Sibirien (heute Nowosibirsk). Otto Baumgartner ist nur einer von hunderttausenden Soldaten, die sich im Ersten Weltkrieg in feindlichem Gewahrsam befanden. Gemessen an der Gesamtstärke der jeweiligen Armeen geriet jeder dreizehnte Reichsdeutsche, jeder zehnte Franzose und Italiener, jeder fünfte Angehörige des zarischen Heeres und schließlich fast jeder Dritte der habsburgischen Streitkräfte im Laufe der Kampfhandlungen des Krieges in Gefangenschaft.

  • Objekt

    Gewalterfahrungen

    Während manche der Frontsoldaten das „Stahlbad des Waffenganges“ als Apotheose ihrer eigenen Männlichkeit erfuhren, litt die Mehrheit der Soldaten an ihren körperlichen und/oder psychischen Verletzungen. Die Zerstörungskraft des modernen Maschinenkriegs und die psychischen Belastungen durch das tagelange Ausharren in den Schützengräben, der Lärm des Trommelfeuers und der Anblick schwer verwundeter oder verstümmelter Kameraden produzierte neben physischen „Kriegsversehrten“ auch massenhaft psychische „Kriegsneurotiker“.