Die Bedeutung der Gefangenenarbeit

Eigentlich sollten laut Haager Landkriegsordnung von 1907 die gefangenen Mannschaftsangehörigen keine Tätigkeiten verrichten, die in unmittelbarem Zusammenhang mit den Kriegsanstrengungen standen. Tatsächlich aber waren viele Feindsoldaten, die sich im Gewahrsam der gegnerischen Truppen befanden, sogar im Frontbereich beschäftigt. Ganz allgemein stellte sich für einige Länder die Frage, ob die „fremden Militärpersonen“ nicht aus ökonomischer Sicht unentbehrlich geworden waren.

Mit der Fortdauer der unerwartet langen Kampfhandlungen machte sich überall ein Arbeitskräftemangel bemerkbar, der ab 1915 zu einer verstärkten Heranziehung von Kriegsgefangenen führte. Zur Jahreswende 1916/17 sollen nach Schätzungen zwischen 70 und 80 Prozent der gegnerischen Soldaten in der russischen und in der deutschen Wirtschaft tätig gewesen sein. Vergleichbare Entwicklungen sind auch für die Donaumonarchie anzunehmen, nachdem sich schon im Herbst 1915 nur noch durchschnittlich 30 bis 40 Prozent der feindlichen Heeresangehörigen in den k. u. k. Lagern befunden hatten.

Die Erfahrung hinter Stacheldraht war somit keineswegs typisch für die Gefangenenmassen, sondern eher für Offiziere, die gewöhnlich aufgrund des geltenden Kriegsrechts nicht für Arbeitseinsätze herangezogen wurden. Allerdings hielt man sich an die geltenden internationalen Reglements nur bedingt. Im Frühjahr 1917 waren etwa verbotenerweise fast 300.000 Feindsoldaten bei der k. u. k. Armee im Felde tätig. Ähnliche Zahlen existieren auch für die Hohenzollernarmee, während es in den Operationsgebieten der russischen Armee zumindest bei bestimmten Offensiven sogar noch mehr Kriegsgefangene gewesen sein könnten.

In manchen Regionen und Branchen kam der Gefangenenarbeit besondere Bedeutung zu. Im Ural und im Donbass beispielsweise machte sie 20 bis 30 Prozent der jeweiligen regionalen Gesamtwirtschaftsleistung aus. In ganz Russland stellten Soldaten der Mittelmächte während des Sommers 1917 60 Prozent der Eisenerzbergleute, 30 Prozent aller Beschäftigten in Roheisengießereien und 28 Prozent aller Torfstecher. Bedeutend war der Anteil der Kriegsgefangenen vor allem auch in der Landwirtschaft. Zwei Fünftel aller auf dem Territorium des untergehenden Zarenreiches festgehaltenen Soldaten der Mittelmächte setzte man im Agrarsektor ein. Im Hohenzollernreich und in der Habsburgermonarchie waren es zum Jahreswechsel 1917/18 rund 860.000 beziehungsweise 438.000 meist aus dem Romanowimperium stammende Gefangene.

Speziell die deutschen und österreichisch-ungarischen Eliten empfanden daher die Repatriierung beziehungsweise den Austausch der Kriegsgefangenen nach dem Friedenschluss mit der Sowjetregierung in Brest-Litowsk am 3. März 1918 als Risiko. Deutschland konnte nicht einmal 200.000 eigene Soldaten zurückerwarten, sollte aber mehr als eine Million „Russen“ abgeben. „Das müsste zum Zusammenbruch unseres ganzen Wirtschaftslebens führen“, urteilte demgemäß die preußische Generalität. Obwohl Österreich-Ungarn in diesem Zusammenhang ein größeres „Kräftereservoir“ zurückerhalten konnte als es verloren hatte, blieb man aber auch in der Habsburgerarmee vorsichtig. Auf dem Territorium des früheren Romanowimperiums waren gerade vor dem Hintergrund der revolutionären Ereignisse Evakuierungs- und Transportschwierigkeiten zu befürchten. Der sogenannte „Großaustausch“ wurde aus dieser Perspektive auch als schwere ökonomische Belastung für die Donaumonarchie betrachtet.

Bibliografie 

Leidinger, Hannes/Moritz, Verena: Kriegsgefangenschaft und Kriegswirtschaft, in: Dornik, Wolfram/Gießauf, Johannes/Iber, Walter M. (Hrsg.): Krieg und Wirtschaft. Von der Antike bis ins 21. Jahrhundert, Innsbruck/Wien/Bozen 2010, 461-470

Inhalte mit Bezug zu diesem Kapitel

Aspekt

  • Aspekt

    Gewalt im Krieg

    Gewalt war im Ersten Weltkrieg ein gesellschaftlich umfassendes Phänomen. Soldaten, Zivilisten, Frauen, Männer, Kinder und Greise waren auf die eine oder andere Weise mit ihr konfrontiert. Wie man Gewalt erlebte war unterschiedlich: Sie wurde ausgeübt und erlitten, sie war von physischer und psychischer Prägung, sie fand auf struktureller wie individueller Ebene statt, man erfuhr sie direkt oder indirekt.

Personen, Objekte & Ereignisse

  • Objekt

    Kriegsgefangenschaft

    Im Mai 1916 schickt Anton Baumgartner eine Kriegsgefangenenpostkarte an seinen Sohn Otto im Gefangenenlager Nowo Nikolajewsk in Sibirien (heute Nowosibirsk). Otto Baumgartner ist nur einer von hunderttausenden Soldaten, die sich im Ersten Weltkrieg in feindlichem Gewahrsam befanden. Gemessen an der Gesamtstärke der jeweiligen Armeen geriet jeder dreizehnte Reichsdeutsche, jeder zehnte Franzose und Italiener, jeder fünfte Angehörige des zarischen Heeres und schließlich fast jeder Dritte der habsburgischen Streitkräfte im Laufe der Kampfhandlungen des Krieges in Gefangenschaft.

Entwicklungen

  • Entwicklung

    Alltag an der (Heimat) Front

    Wie gestaltete sich der Alltag in der Heimat und an den Fronten während der Jahre 1914 bis 1918? Lässt sich der Alltag einer bürgerlichen Frau mit jenem einer Arbeiterin vergleichen? Machte ein Offizier dieselben Fronterfahrungen wie ein Mannschaftssoldat? Oder müssen wir nicht eher davon ausgehen, dass wir es mit einer immensen Fülle an Einzelerlebnissen und -erfahrungen zu tun haben, die den Kriegsalltag der Bevölkerung und der Soldaten an den Fronten prägten?