Abschied von der „Welt von gestern“

Mit Fortdauer des Krieges verdichteten sich die Anzeichen, vor einer entscheidenden Wende zu stehen. Der anfängliche Hurrapatriotismus und die nationale Begeisterung waren einer Ernüchterung, oft Verbitterung gewichen. Es ist das Jahr 1916, das als entscheidender Wendepunkt in der Wahrnehmung des Krieges ausgemacht wird. Dies war auf die Zunahme der Versorgungsengpässe zurückzuführen wie auf wenig verheißungsvolle Nachrichten von der Front. Dazu starb mit Kaiser Franz Joseph I. der wichtigste Repräsentant der „Welt von gestern“.

Der Tod Kaiser Franz Josephs und das Kaiserbegräbnis am 30. November 1916 können symbolisch als eine Art Abgesang bezeichnet werden. Der unglückliche Kriegsverlauf, die Unzufriedenheit über den habsburgischen Kriegsabsolutismus und die Versorgungsmisere der Wiener Bevölkerung ließen keine echte Trauer aufkommen, die vorherrschende Stimmung war eher dumpfe Gleichgültigkeit. Viele scheinen bereits geahnt zu haben, dass sie eigentlich Abschied von der „Welt von gestern“ nahmen. Tatsächlich deutete einiges auf diesen Abschied hin: Die Hungersnot nahm dramatische Formen an, (Hunger)Demonstrationen häuften sich, kleine Gewaltakte nahmen zu. Die Verrohung der Stimmung zeigte nicht zuletzt die Ermordung des Ministerpräsidenten Stürgkh im Oktober 1916 durch Victor Adlers Sohn Fritz. Die Bevölkerung begriff sich zunehmend als Kriegsopfer, fühlte sich angesichts der unzureichenden Logistik, der Unfähigkeit, die Inflation zu bekämpfen bzw. etwas gegen Profiteure zu unternehmen als Opfer des Habsburgerregimes, als Opfer des Staates und der Gemeinde.

Abschied von der „Welt von gestern“ konnte aber auch Abschied von bisherigen Gepflogenheiten und Praktiken bedeuten: So hatte die Versorgungskatastrophe gewissermaßen einen positiven Nebeneffekt, brachte eine Art sozialpolitische Wende, obwohl Maßnahmen der klassischen Notstandsfürsorge (Kriegsküche, Kinderverschickungen etc.) weiterhin vorherrschten. Gleich nach Kriegsausbruch wurde die Zentralstelle der Fürsorge für Soldaten und ihre Familienangehörigen eingerichtet. Am deutlichsten zeigte sich die Neuausrichtung in der Hinwendung zur Kinder- und Jugendfürsorge, die 1916 in die Gründung eines Städtischen Jugendamtes mündete. Im Mai 1917 wurde das Arbeitsfürsorgeamt als Nachfolger des städtischen Arbeits- und Dienstvermittlungsamtes, im Juli 1917 das Städtische Wohlfahrtsamt eingerichtet. Als besonders nachhaltig erwies sich die Einführung bzw. Ausweitung des Mieterschutzes.

Was die Position der ArbeiterInnen in den Betrieben betrifft, konnten ebenfalls soziale Verbesserungen durchgesetzt werden. Die Behörden suchten nicht zuletzt wegen der katastrophalen Versorgungslage und der aufkommenden sozialen Unruhen die Kooperation, die Gewerkschaften hatten im Krieg ohnehin eine Politik des Burgfriedens verfolgt. Damit ging die Arbeiterschaft letztlich aus dem Ersten Weltkrieg gestärkt hervor, was in einer Vielzahl betrieblicher und wirtschaftspolitischer Körperschaften Ausdruck fand, wie etwa in der Errichtung einer paritätischen Kommission oder von Beschwerdekommissionen. Noch vor Ausrufung der Republik wurde die Arbeitslosenunterstützung für alle Industriearbeiter und Angestellten eingeführt. Beeinflusst wurden die Forderungen der Arbeiterschaft nach Beendigung des Krieges oder Aufhebung des Militärstrafrechtes wie das vorsichtige Entgegenkommen der Behörden nicht zuletzt auch durch die russische Revolution: Viele Soldaten kamen aus russischer Gefangenschaft zurück und berichteten vom Sieg der Revolution.

Auch das Wiener Stadtbild, der Eindruck, den die Stadt hervorrief, hatte sich geändert. Wien hatte sich zu einer Kasernen-, Baracken- und Lazarettstadt entwickelt, selbst öffentliche Ringstraßengebäude wie die Universität oder das Parlament waren zu Spitälern umfunktioniert worden. Menschenmassen in Form von Warteschlagen prägten das Stadtbild überall dort, wo irgendetwas zu bekommen war . In den Straßenbahnen zwickten Schaffnerinnen die Fahrkarten: Frauen waren in einige Männerdomänen eingedrungen, nicht ohne männlichen Widerstand bzw. kollektive Skepsis und Irritation hervorzurufen.

Im Verlauf der Jahre 1917 und 1918 sollte sich die Situation allgegenwärtigen Mangels, Hungers und Elends noch weiter verschärfen. Ausdruck fand sie in den großen Streiks dieser Jahre, deren unmittelbarer Anlass meist Lebensmittelkürzungen waren. Die sozialen Spannungen kulminierten im Oktober und November 1918, als sich die kaiserliche Armee auflöste, die Kriegsindustrie zusammenbrach und die Jahrhunderte alte staatliche Ordnung endgültig zerfiel. Das Jahr 1918 bedeutete letztlich eine Zäsur auf politischer, sozialer und wirtschaftlicher Ebene. Zufällig starben in diesem Jahr neben Victor Adler mit Gustav Klimt, Otto Wagner, Kolo Moser und Egon Schiele einige große Repräsentanten der künstlerischen Avantgarde des Wiens der Jahrhundertwende, ein weiterer Abschied von einer in dieser Hinsicht wirklich glorreichen Zeit.

Bibliografie 

Berger, Peter: Die Stadt und der Krieg. Wiens Wirtschaft und Gesellschaft 1914-1918, in: Pfoser, Alfred/Weigl, Andreas (Hrsg.): Im Epizentrum des Zusammenbruchs. Wien im Ersten Weltkrieg, Wien 2013, 210-219

Grandner, Margarete: Kooperative Gewerkschaftspolitik in der Kriegswirtschaft, Wien/Köln/Weimar 1992

Healy, Maureen: Vienna and the Fall of the Habsburg Empire. Total War and Everyday Life in World War I, Cambridge 2006

Maderthaner, Wolfgang: Krieg und Frieden, in: Csendes, Peter/Opll, Ferdinand (Hrsg.): Wien. Geschichte einer Stadt, Band 3: Von 1790 bis zur Gegenwart, Wien/Köln/Weimar 2006, 317-360

Inhalte mit Bezug zu diesem Kapitel

Aspekt

Personen, Objekte & Ereignisse

  • Objekt

    Revolutionäre Bewegungen, Streikbewegungen

    Die Umstellung der Produktionsstätten auf Kriegswirtschaft und der Einsatz der Männer an der Front bedingte, dass zunehmend Frauen in zuvor typischen Männerberufen, wie beispielsweise in Betrieben der Rüstungsindustrie, beschäftigt wurden. Frauen mussten auch die Versorgung ihrer Familien übernehmen und reagierten daher auch als Erste mit Protestaktionen auf die zunehmend prekäre Ernährungslage und auf extrem schlechte Arbeitsbedingungen in den Betrieben.

  • Objekt

    Mangel und Elend

    Als im Jänner 1915 die Bevölkerung auf ausbleibende Brot- und Mehllieferungen mit Panikkäufen reagierte, führte die Kriegs-Getreide-Verkehrsanstalt das Bezugskartensystem ein. Pro-Kopf-Quoten wurden festgesetzt und über Brot- und Mehlkarten verteilt. Doch selbst die zugewiesenen Rationen konnten angesichts der Krise immer seltener ausgegeben werden und die Papierscheine erwiesen sich als wertlos.

Entwicklungen

  • Entwicklung

    Geschlechterrollen: (k)ein Wandel?

    Dass der Erste Weltkrieg traditionelle Geschlechterrollen von Frauen und Männern ins Wanken brachte, ist eine weitverbreitete Ansicht. Fotografien von Straßenbahnschaffnerinnen, Fuhrwerkerinnen und Briefträgerinnen zeugen dem Anschein nach ebenso davon wie die durch den Krieg erzwungene und notwendige Übernahme der männlich gedachten Rolle des Ernährers und Versorgers durch die daheim gebliebenen Frauen. Aber gab es diesen Wandel tatsächlich und was blieb nach 1918 davon übrig?