Die wachsende Stadt: Wien am Vorabend des Ersten Weltkriegs
Um 1910 war Wien zu einer Weltstadt herangewachsen, zu einer international bedeutenden Metropole mit rund 2,1 Millionen Einwohnern und weltweiter kultureller und wissenschaftlicher Bedeutung.
„Wir haben die Überzeugung, dass die Menschheit einer längeren, gesegneten Friedenszeit entgegengeht.“ Diese Annahme sollte sich alsbald als großer Irrtum herausstellen.
Zitiert nach: Rauchensteiner, Manfried: Krieg als Chiffre des Friedens. Österreich-Ungarns letzter Krieg, in: Pfoser, Alfred/Weigl, Andreas (Hrsg.): Im Epizentrum des Zusammenbruchs. Wien im Ersten Weltkrieg, Wien 2013, 32
Unter dem seit 1897 amtierenden christlichsozialen Bürgermeister Karl Lueger (1844-1910) erfolgte die Kommunalisierung der wichtigsten Versorgungsleistungen der Stadt Wien (Gas, Elektrizität, Straßenbahn) und eine Erweiterung der sozialen Infrastruktur (Schulbauten, Krankenhäuser, Pflegeanstalten, Zweite Wiener Hochquellenwasserleitung). Die Wohnbautätigkeit lag hingegen nahezu völlig in der Hand privater Unternehmer und hinkte dem Bevölkerungswachstum hinterher. Mit der Stadtbahn erhielt Wien ein neben der Straßenbahn zweites, ursprünglich mit Dampf betriebenes Massenverkehrsmittel, wobei die Trassenführung unterschiedliche Anforderungen erfüllte. Ab 1913 kündigte sich ein neues Zeitalter im öffentlichen Verkehr an: Die ersten noch mit Pferden betriebenen Linien stellten auf Kraftfahrzeugbetrieb um. Und die Gemeinde plante – nicht zum ersten Mal – die Errichtung einer Untergrund-Schnellbahn. Im Oktober 1913 wurde der neue Getreidespeicher des städtischen Lagerhauses eröffnet, bald sollte sich herausstellen, dass die Lagerkapazitäten für einen langen Krieg bei Weitem nicht ausreichen würden. Während des Kriegs kam es zu einem weitgehenden Erliegen der Bautätigkeit. Vieles, was vor 1914 projektiert worden war, gelangte nach Kriegsbeginn nicht mehr zur Ausführung, etwa die Untergrund-Bahn oder ein neues städtisches Museum auf der Schmelz.
Stadträumlich erfolgte 1904/05 als Ausdruck einer vorausschauenden Erweiterungspolitik die Eingemeindung der Donaugemeinden Floridsdorf, Jedlesee, Groß-Jedlersdorf, Strebersdorf (teilweise), Stammersdorf (teilweise), Leopoldau, Stadlau und Aspern als 21. Bezirk Wiens. Die Fläche der Stadt erhöhte sich um ungefähr 50 Prozent auf 278 Quadratkilometer, die Einwohnerzahl stieg auf über 2 Millionen. Der neue Bezirk Floridsdorf machte mit 99 Quadratkilometern mehr als ein Drittel der Fläche Wiens aus und sollte die Funktion eines großen Industrie- und Handelszentrums einnehmen. Ebenfalls 1905 wurde die Schaffung eines Wald- und Wiesengürtels beschlossen. Die umfangreichen Projekte finanzierte die christlichsoziale Stadtverwaltung über Anleihen. Im Mai 1914 nahm man für die weitere Modernisierung ein Investitionsdarlehen in der Höhe von 375 Mio. K auf, ab 1916 musste der Kredit jedoch für die Lebensmittelbeschaffung und die Linderung anderer Notlagen verwendet werden.
Bei der Volkszählung 1910 belief sich die Einwohnerzahl Wiens auf rund 2,1 Millionen, erwartet wurde eine weitere Expansion auf bis zu 4 Millionen Einwohner. Wien war eine Einwanderungsstadt, unter den Migranten dominierten Tschechen und Juden. Zu Kriegsbeginn dürfte die Bevölkerung rund 2,15 Millionen betragen haben, seine höchste Einwohnerzahl erreichte Wien während des Ersten Weltkriegs im Frühjahr 1915 mit rund 2,3 bis 2,4 Millionen Einwohnern (inklusive Militär, Flüchtlingen, Verletzten, etc.), paradoxerweise zu einer Zeit, als an die hunderttausend Wiener an der Front waren. Bis zum Spätherbst 1918 fiel die Bevölkerungszahl auf etwa 2,1 Millionen.
Die expansive Stadtentwicklung fand eine Parallele in einem wirtschaftlichen Aufschwung. Häufig ist von einer „zweiten Gründerzeit“ in den letzten Vorkriegsjahren die Rede, obwohl sich die wirtschaftliche Dynamik noch vor Kriegsbeginn abschwächte. Der Krieg bewirkte dann definitiv eine Zäsur. Der Wirtschaftsstandort Wien wurde geprägt durch ein Neben- und Miteinander von Großindustrie und Kleingewerbe, wobei in der Wirtschaftsstruktur Klein- und Mittelbetriebe zahlen- und beschäftigungsmäßig überwogen.
Im Wachsen begriffen war in Wien auch die sozialdemokratische Bewegung. Am Trauerzug für den ermordeten Parteiführer Franz Schuhmeier am 11. Februar 1913 beteiligten sich 500.000 Menschen. Bei den Reichsratswahlen im Juni 1913 erlangten die Sozialdemokraten erstmals die Mehrheit in Wien, deutliches Anzeichen eines politischen Paradigmenwechsels, der erst nach dem Krieg Realität werden sollte. Kurz vor dem Ersten Weltkrieg wurde ein kommunalpolitisches Programm beschlossen, das im Kern dem Programm des späteren Roten Wien entsprach.
Mertens, Christian: Richard Weiskirchner (1861-1926). Der unbekannte Wiener Bürgermeister, Wien/München 2006
Pfoser, Alfred/Weigl, Andreas: Die Pflicht zu sterben und das Recht zu leben. Der Erste Weltkrieg als bleibendes Trauma in der Geschichte Wiens, in: Pfoser, Alfred/Weigl, Andreas (Hrsg.): Im Epizentrum des Zusammenbruchs. Wien im Ersten Weltkrieg, Wien 2013, 14-31
Weigl, Andreas: Eine Stadt stirbt nicht so schnell. Demographische Fieberkurven am Rande des Abgrunds, in: Pfoser, Alfred/Weigl, Andreas (Hrsg.): Im Epizentrum des Zusammenbruchs. Wien im Ersten Weltkrieg, Wien 2013, 62-71
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Kapitel
- Die wachsende Stadt: Wien am Vorabend des Ersten Weltkriegs
- Der Krieg erobert die Stadt
- Umbauen für den Krieg: Die Baracken- und Lazarettstadt Wien
- „Flüchtlingslager“ Wien
- Kriegswirtschaftszentrale Wien
- Abschied von der „Welt von gestern“
- Hilfe zur Selbsthilfe: Wilde Siedlerbewegung und Abholzung des Wienerwaldes
- Umsturz der Werte: Das Nachkriegswien