Kriegswirtschaftszentrale Wien
Der Kriegsausbruch zog eine Umstellung der Wirtschaft auf den Krieg nach sich, die mehrere planwirtschaftliche Elemente und Züge einer Wirtschaftsdiktatur aufwies. Verbunden war dieser Prozess mit einer Militarisierung der Betriebe und Arbeitsverhältnisse. Bald machte sich ein Arbeitskräftemangel bemerkbar, der vor allem durch vermehrte Frauenarbeit kompensiert wurde. Dass man auf einen Krieg dieser Dauer und Intensität nicht vorbereitet war, zeigt nicht zuletzt ein Blick auf die katastrophale Versorgungssituation der Wiener Bevölkerung. Es mangelte an nahezu allem.
Bereits vor dem Krieg waren erste Anzeichen einer wirtschaftlichen Krise zu spüren gewesen, die sich mit Kriegsausbruch und der Notwendigkeit der Umstellung von ziviler auf Kriegsproduktion verschärften. Etliche Geschäfte und Betriebe mussten geschlossen werden, was zunächst eine erhöhte Arbeitslosigkeit zur Folge hatte. Schon bald nach Kriegsbeginn wurden die für den Heeresbedarf wichtigen Betriebe, v. a. die Waffen- und Munitionsproduktion, dem Kriegsrecht unterstellt und auf Kriegsbedarf ausgerichtet, womit bereits erreichte Arbeiterschutzbestimmungen außer Kraft gesetzt wurden und der Arbeitsalltag militarisiert wurde. Einkommens- und Arbeitsbedingungen der Arbeiterschaft waren katastrophal. Auf erste Unruhen, meist durch Hunger bzw. Kürzungen der Lebensmittelzuteilung ausgelöst, reagierten die Betriebe zunächst mit einer Ausweitung und Verschärfung des militärischen Dienstrechts. Verbesserungen der Lage der Arbeiterschaft (z. B. durch die Einrichtung sozialpartnerschaftlich besetzter Beschwerdekommissionen) zeichneten sich ab 1917 ab.
Wien bildete das Zentrum der Kriegswirtschaft. Im November 1916 waren 1.587 Unternehmen mit Firmensitz in Wien für die k. u. k. Heeresverwaltung tätig, die rund 700.000 Personen beschäftigten. Allein das Wiener Arsenal expandierte zu einer „Waffenbeschaffungsanstalt“ mit bis zu 20.000 Beschäftigten. Während kriegswichtige Branchen wie die Eisenindustrie, der Maschinenbau, die Fahrzeug- und Flugzeugindustrie oder die Elektrotechnik bald stark expandierten, brachen manche Zweige der Konsumgüterproduktion, wie etwa die Textil- und Bekleidungsindustrie, die Luxus- und Exportgüterindustrie und das Baugewerbe fast gänzlich zusammen. Bedingt durch die „Kriegskonjunktur“ in einigen Branchen setzte ein Arbeitskräftemangel ein und die Beschäftigung qualifizierter Arbeiter stellte bald ein gravierendes Problem dar. Als Ersatz für die eingerückten Arbeitskräfte wurde vermehrt auf Jugendliche und ältere Arbeitnehmer, auf Kriegsgefangene, vor allem aber auf Frauen zurückgegriffen, in der Rüstungsindustrie, in anderen Industriebranchen, bei zivilen und militärischen Dienststellen, stark konzentriert etwa bei den Städtischen Straßenbahnen.
Zur Finanzierung des Krieges setzte die Regierung auf das Mittel der Kriegsanleihen, die mit dem Versprechen großer Renditen und mit hohem Propaganda-Aufwand auf den Markt gebracht wurden. Mit Kriegsende sollten sich diese Papiere als wertlos erweisen.
Österreich-Ungarns Wirtschaft war auf Länge und Ausmaß dieses Kriegs nicht vorbereitet, dies zeigte sich nirgendwo deutlicher als bei der Versorgungsfrage und betraf Heizmaterial und Ernährung. Die kaum mechanisierte Landwirtschaft, die Aussperrung der Mittelmächte vom Weltmarkt als Folge der Blockade der Entente-Mächte, der Ausfall des agrarisch geprägten Galizien und ständige Reibereien mit Ungarn verlangten nach Alternativen. Die kaiserliche Verordnung vom Oktober 1914 und schließlich das Kriegswirtschaftliche Ermächtigungsgesetz vom Juli 1917 dienten als Grundlage für die Errichtung einer planwirtschaftlich ausgerichteten Wirtschaftsdiktatur, charakterisiert durch Rationierungen, Karten-gestützte Bezugssysteme, Festsetzung von Höchstpreisen etc. Eine wichtige Funktion in der Kriegswirtschaft übten die Kriegszentralen aus. Als erste Zentrale wurde bereits 1915 die Kriegs-Getreideverkehrsanstalt eingerichtet. Insgesamt sollten 91 Zentralen gegründet werden, davon entfielen 20 auf Ernährung. So wurde etwa im Dezember 1916 die Stelle für städtische Lebensmittelversorgung eingerichtet. Doch die privatwirtschaftlich organisierte private Bewirtschaftung bot zahlreiche Anlässe zur Kritik, hatte in vielen Fällen zu Misswirtschaft und persönlicher Bereicherung geführt.
Bereits im Jahr 1915 zeichneten sich Engpässe bei mehreren Grundnahrungsmitteln ab, die Polizei vermeldete in ihren Stimmungsberichten lange Warteschlangen für bestimmte Güter. Brot- und Mehlkarten wurden im April 1915 als erste einschneidende Maßnahmen zur Lebensmittelrationierung eingeführt, ab März/April 1916 folgten Karten für den Bezug von Zucker, Kaffee, Milch, Fett/Butter. Der Bezug von Kartoffeln und Marmelade durch Lebensmittelkarten wurde 1917, jener von Fleisch sehr spät noch, im September 1918, geregelt. Spekulation und Hamsterkäufe trieben trotz der Festsetzung von Höchstpreisen für Grundnahrungsmittel die Preise in die Höhe (die Teuerung betrug 1915 an die 120 Prozent, 1916 200 Prozent), in den Bezirksgerichten häuften sich die Fälle von Preistreiberei. Die Menschen fühlten sich von den Lebensmittelzentralen betrogen, aber auch von kleinen HändlerInnen. Die Namen verurteilter PreistreiberInnen wurden auf sogenannten Prangerlisten oder durch öffentlichen Anschlag kundgemacht. Die Vorräte begannen 1916 zunehmend knapper zu werden.
Wer einen Schrebergarten hatte, besserte die eigene Versorgung durch Gemüseanbau oder die Zucht von Kleintieren, insbesondere Kaninchen, auf. Die Not machte erfinderisch, der Mangel an Lebensmitteln führte zum Einsatz diverser Ersatzstoffe, äußerste Sparsamkeit und Kreativität wurden den Hausfrauen abverlangt. Jedem Abfall kam diesbezüglich große Bedeutung zu, etwa Obstkernen zur Produktion von Öl. Mit Propagandamaßnahmen versuchte man Verständnis für die schlechte Ernährungslage und die Rationierungen zu gewinnen. In Kochkursen und Kriegskochbüchern wurde gezeigt, wie man mit einfachsten Mitteln und mit Ersatzstoffen Speisen zubereiten konnte, aber auch neue Kochutensilien wie die sparsame „Kochkiste“ wurden präsentiert. „Der Begriff ‚Ersatz’ wurde … zum Symbol für die katastrophale Ernährungslage des Ersten Weltkriegs …“ Ersatzfleisch, Ersatzwurst, es gab fast nichts, was nicht zu ersetzen war. Ferner versuchte man seitens der Stadtverwaltung der schlechten Versorgungslage mit der Errichtung von Kriegsküchen entgegenzuwirken. 1916 wurden rund 54.000 Menschen durch öffentliche Ausspeisungen versorgt, bis Kriegsende stieg die Zahl auf rund 134.000 Personen pro Tag.
Sehr bald wurden zudem Engpässe bei Rohstoffen spürbar, etwa bei Nichteisenmetallen. Es mangelte an Petroleum, Kerzen oder Kohlen, an Holz und Futtermitteln. Der Ausfall an Baumwolle legte wiederum die Textilindustrie lahm. Als weitere „Achillesferse“ der österreichischen Wirtschaft erwies sich das Transportsystem bzw. unzureichende Logistik. Bilder stundenlang wartender Menschenschlangen, vor allem Frauen, Kinder und Jugendliche, wurden zu einem vertrauten Bestandteil des Stadtbildes während des Krieges: Anstellen vor Geschäften, Marktständen, Anstellen um Unterstützungsgelder, um Fahr- oder Eintrittskarten, Anstellen bei den Kriegsküchen war Normalität und fixer Bestandteil des Alltags geworden. Damit wuchs auch das Aggressionspotenzial. Trotz des vermehrten Einsatzes von Sicherheitskräften, die die Situation beruhigen sollten, häuften sich mit Fortdauer des Krieges kleinkriminelle Vergehen und Gewaltakte. Jugendliche schlossen sich zu sogenannten „Platten“ zusammen, Geschäfte wurden gestürmt und geplündert, Lebensmitteltransporte überfallen. Der Hunger führte zu einem Hungerkrieg.
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Zitate:
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Kapitel
- Die wachsende Stadt: Wien am Vorabend des Ersten Weltkriegs
- Der Krieg erobert die Stadt
- Umbauen für den Krieg: Die Baracken- und Lazarettstadt Wien
- „Flüchtlingslager“ Wien
- Kriegswirtschaftszentrale Wien
- Abschied von der „Welt von gestern“
- Hilfe zur Selbsthilfe: Wilde Siedlerbewegung und Abholzung des Wienerwaldes
- Umsturz der Werte: Das Nachkriegswien