Hilfe zur Selbsthilfe: Wilde Siedlerbewegung und Abholzung des Wienerwaldes
Mit Kriegsbeginn erlahmte die Wohnbautätigkeit vollends. Es war jedoch trotz vielfach katastrophaler Wohnverhältnisse weniger der Wohnungsmangel als vielmehr die akute Versorgungsnot, die zur Verbreitung von Kleingärten beitrug. Die spontane, von unten kommende und sich während des Krieges verbreiternde Siedlertätigkeit zielte vor allem auf die Eigenproduktion von Nahrungsmitteln.
Als Reaktion auf die katastrophale Versorgungslage griffen Teile der Wiener Bevölkerung zu Selbsthilfemaßnahmen. Auf brach liegendem Land, auf Bauplätzen und sonstigen Freiflächen entstanden ohne Einwilligung der Eigentümer Kriegsgemüsegärten und sonstige landwirtschaftliche Anbauflächen, die in der Regel offiziell geduldet wurden. Aber auch die Gemeinde reagierte. In Wien beschloss der Stadtrat am 25. Februar 1915 den Kartoffel- und Gemüseanbau auf Gemeindegebiet, z. B. städtischen Grünanlagen. Gefördert wurden Anbaugebiete in der Lobau, in der Leopoldstadt sowie Anbaufelder in/bei Schulen des 10. bis 21. Bezirks, dennoch zeigten sich ab 1916 erhebliche Versorgungsschwierigkeiten. Ab Herbst 1915 wurde gegen den Lebensmittelmangel ein Teil des Gemeindegrundes an Kleingärtner verpachtet, aber auch die Bewirtschaftung von Privatgründen gestattet. Auch Schülern wurden im Rahmen einer eigenen Schüler-Kriegsgemüsegärten-Aktion Anbauflächen zur Verfügung gestellt. Schrebergärten erhielten eine (überlebens)wichtige Funktion. Trotz der Gemeindemaßnahmen breitete sich eine meist illegale Kleingartenbewegung während der letzten Kriegsjahre über das ganze Stadtgebiet aus. Die Zahl der Schreber- bzw. Kleingärten stieg auf ein Mehrfaches an. 1918 waren an die 10.000 Familien daran beteiligt, die Anbaufläche betrug 2,8 Mio. Quadratmeter.
Das sich vor dem Ersten Weltkrieg herausbildende System privat-öffentlicher Stadtentwicklung wurde somit durch den Krieg und seine Auswirkungen beeinträchtigt. Durch die wilde Siedlungstätigkeit wurden die Mechanismen des Bodenmarktes außer Kraft gesetzt. Diese Siedlertätigkeit bzw. -bewegung (bewegungsähnlich wurde die städtische Landnahme erst nach dem Zusammenbruch) stellte nach 1918 für die Wiener Stadtverwaltung ein gravierendes Problem dar. Wohl auch durch zwei machtvolle Demonstrationen (es ist von 200.000 TeilnehmerInnen die Rede) wurde die Gemeinde zum Nachgeben gezwungen. Die besetzten Grundstücke wurden großteils für Siedlungszwecke umgewidmet und die Siedlerbewegung mit Krediten unterstützt.
„Ährenklauben“ auf den Feldern in der Umgebung Wiens, verbotenes Holzsammeln, die Nutzung der zugewiesenen kleinen Anbauflächen für Gemüse mitten im Stadtgebiet oder Kleintierhaltung sogar in den Wohnungen waren Ausdruck des Kampfes ums Überleben. Der Zorn der WienerInnen richtete sich dabei – neben den Angriffen auf Ungarn – häufig gegen die Bauern aus dem umliegenden Niederösterreich, die ihre Produkte auf den Märkten zu weit überhöhten Preisen verkauften oder von unverschämten Tauschgeschäften und der Not der Städter profitierten. Die Versorgungskrise hatte dem Wiener Umland besondere Bedeutung zukommen lassen. Als im Sommer 1918 eine Kürzung der Brotrationen auf die Hälfte angekündigt wurde, begannen die Züge ins Wiener Umland, die sogenannten „Hamsterfahrten“ zu den Kartoffelfeldern, deutlich zuzunehmen, allein am 29. Juni etwa wurde die Zahl der „Hamsterer“ auf 30.000 geschätzt. Es war vom „Kartoffelkrieg“ die Rede, es kam zu Zusammenstößen mit Bauern und Grundeigentümern, zu Plünderungen und Verwüstungen. Die Behörden hatten sich erneut mit dem umstrittenen Thema „Rucksackverkehr“ zu befassen. Die Forderung, das Rucksacktragen zu verbieten, stieß jedoch bei den Wiener Politikern nicht auf Gegenliebe.
Das Kriegsende brachte kein Ende der Not. Im (Kälte-)Winter 1918 zogen neuerlich Tausende Wiener und Wienerinnen in die Wälder rings um Wien und schlugen unter Missachtung aller Eigentumsrechte ganze Waldparzellen ab. Auch in der Stadt selbst verschwand nahezu alles, was brenn- und transportierbar war.
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Healy, Maureen: Vom Ende des Durchhaltens, in: Pfoser, Alfred/Weigl, Andreas (Hrsg.): Im Epizentrum des Zusammenbruchs. Wien im Ersten Weltkrieg, Wien 2013, 132-139
Langthaler, Ernst: Die Großstadt und ihr Hinterland, in: Pfoser, Alfred/Weigl, Andreas (Hrsg.): Im Epizentrum des Zusammenbruchs. Wien im Ersten Weltkrieg, Wien 2013, 232-239
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Kapitel
- Die wachsende Stadt: Wien am Vorabend des Ersten Weltkriegs
- Der Krieg erobert die Stadt
- Umbauen für den Krieg: Die Baracken- und Lazarettstadt Wien
- „Flüchtlingslager“ Wien
- Kriegswirtschaftszentrale Wien
- Abschied von der „Welt von gestern“
- Hilfe zur Selbsthilfe: Wilde Siedlerbewegung und Abholzung des Wienerwaldes
- Umsturz der Werte: Das Nachkriegswien