Der Krieg erobert die Stadt
Wien war während des Krieges weder mit direkten Kriegshandlungen noch mit Kriegszerstörungen konfrontiert. Die Stadt zeigte sich so zwar äußerlich wenig verändert, der Krieg hinterließ aber dennoch deutliche Spuren. Er eroberte den Alltag, Kriegspropaganda und patriotische Begeisterung den Stadtraum. Letztere schwächte sich jedoch mit Fortdauer des Krieges und der Versorgungsmisere bald deutlich ab.
Der Erste Weltkrieg konfrontierte die Wiener und Wienerinnen auf vielen Ebenen mit völlig neuen Rahmenbedingungen. Der Alltag wurde zunehmend zu einer Belastungsprobe, jeder Ablauf, jede Tätigkeit musste bis ins kleinste Detail geplant werden: Wie und wo man zu Nahrungsmitteln kam? Was man alles zu einem Essen machen konnte? Wie man mit seinen kargen Mitteln zu Rande kam? Es mangelte an nahezu allem. Demzufolge war am Ende des Krieges der Großteil der Bevölkerung körperlich und seelisch erschöpft.
Der Krieg brachte auch für den politischen Alltag eine Zäsur. Ende September 1914 tagte der Wiener Gemeinderat noch einmal, um eine Fülle von provisorischen Verfügungen (Heranziehung von Schulen für Lazarette, Notpläne für Straßenbahnen, etc.) nachträglich zu genehmigen. Danach blieben die Beratungen des Gemeinderates bis Februar 1916 unterbrochen, alle kriegswichtigen Angelegenheiten wurden Sache der neu geschaffenen Obmännerkonferenz. Somit kann insgesamt von einer wenig systematischen Kommunalpolitik während des Krieges ausgegangen werden. Trotzdem erhielt die Stadt ein Wohnungsamt, Jugendamt, Wohlfahrtsamt und Gesundheitsamt. Die Parteien einigten sich in Form eines „Burgfriedens“, bis Anfang 1918 alle grundlegenden Meinungsverschiedenheiten zurückzustellen.
Bürgermeister und Gemeinderat wurden mit Fortdauer des Krieges immer abhängiger von der Militärverwaltung, gleichzeitig wuchsen ihre Aufgaben deutlich an: Musterungen, Flüchtlings-, Invaliden- und Hinterbliebenenfürsorge oder die Lebensmittelversorgung mussten zudem von den Gemeinden überwiegend selbst finanziert werden, was die Stadt in budgetäre Extremsituationen brachte.
Der Krieg machte sich auf vielfache Weise in der Stadt bemerkbar, direkt und indirekt. Die Kriegserklärung am 28. Juli 1914 fand großteils euphorische Zustimmung, führte zu patriotischen Aufmärschen und Versammlungen, begleitet von stürmischen Hochrufen auf Kaiser, Vaterland und Armee. Die Presse, allen voran die regierungstreue Neue Freie Presse, schürte die Kriegseuphorie. Zahlreiche wöchentlich erscheinende Illustrierte widmeten sich der Kriegsberichterstattung und ihrer bildlichen Aufbereitung. Bereits zu Kriegsbeginn wurden Aktionen wie das Verfertigen von „Liebesgaben“ (Socken, Schneehauben, aber auch Nahrungsmittel etc.) für die Soldaten als „Instrument der Propaganda“ etabliert. Patriotische Aufschriften verbreiteten sich im Stadtraum, auf Freiflächen oder Bäumen, und fanden sich auf Zugwaggons und Fuhrwerken, die Wien verließen.
Eine Ansichtskarte von 1914 zeigt die Mariahilferstraße im Siegesschmuck. Die Verabschiedung erster Freiwilliger wurde patriotisch hochstilisiert. Der öffentliche Raum wurde nationalisiert und in den Dienst des Krieges, genauer der Kriegspropaganda, gestellt. Der „Eiserne Wehrmann“ wurde auf dem Schwarzenbergplatz aufgestellt, als Mahnmal für die Wiener und Wienerinnen, die Soldaten an der Front, die Witwen und Waisen zu unterstützen. Gegen eine Spende durfte man dort einen Nagel einschlagen. Im Herbst 1915 kamen überall in der Stadt hölzerne Wehrmänner dazu. Die Medien und Formen der Kriegspropaganda waren vielfältig, die Menschen schmückten sich mit Aufnähern, Anstecknadeln, Kokarden. Im Rahmen der Aktion „Gold gab ich für Eisen“ wurden Eheringe gegen Eisenringe getauscht, Goldgegenstände mit Metall aufgewogen. Gesammelt wurde fast alles, Schuhe, Kleider, Metalle, Flaschen, Zeitungen und das begehrteste Gut: Geld.
Der Krieg nahm in mehrfacher Weise Einfluss auf das Wiener Unterhaltungsleben. Für die Saison 1914/15 wurden sämtliche Bälle abgesagt, Silvester wurde sehr ruhig gefeiert. Doch kam der Unterhaltungsindustrie bald eine wichtige Ablenkungsfunktion vom Kriegsalltag zu. Das Burgtheater blieb zunächst geschlossen, dann wurde es wieder geöffnet. Kriegspropaganda hielt in Theaterstücke Einzug, ja selbst in die leichte Muse, die Operette, drang die Politik vor. Der größte Filmhit hieß „Wien im Krieg“.
Primitivste Töne und Fremdenhass beherrschten die Wiener Öffentlichkeit und machten sich auf den Straßen bemerkbar, gerichtet gegen die Kriegsgegner, bald aber auch gegen die vorwiegend jüdischen Flüchtlinge, die von den Kriegsschauplätzen in die Stadt strömten. Slogans wie „Serbien muss sterbien“, „Jeder Schuß – ein Ruß“, „Jeder Brit – ein Tritt“ wurden mit Begeisterung aufgenommen. Wesentlicher Bestandteil der Propaganda wurde die Indoktrination von SchülerInnen, die „Schulfront“ wurde ein bedeutender Teil der „Heimatfront“. Das kam selbst beim Spielzeug zum Ausdruck, Kriegsspiele fanden große Verbreitung.
Information und Propaganda vermischten sich: Während eine Gruppe von Industriellen unter Führung von Julius Meinl Ende 1915 eine Friedensinitiative zur Beendigung des Krieges startete, begann der Wiener Filmproduzent Alexander (Sascha) Josef Graf von Kolowrat-Krakowsky mit seinen wöchentlichen Kriegsberichterstattungen, der „Sascha-Kriegswoche“. Etwa zeitgleich begann man mit Ausstellungen über die Verhältnisse im militärischen und wirtschaftlichen Bereich zu informieren, z. B. in der Schützengräben- und Kriegsmarine-Show bzw. 1916 in der Kriegsausstellung im Wiener Prater.
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Kapitel
- Die wachsende Stadt: Wien am Vorabend des Ersten Weltkriegs
- Der Krieg erobert die Stadt
- Umbauen für den Krieg: Die Baracken- und Lazarettstadt Wien
- „Flüchtlingslager“ Wien
- Kriegswirtschaftszentrale Wien
- Abschied von der „Welt von gestern“
- Hilfe zur Selbsthilfe: Wilde Siedlerbewegung und Abholzung des Wienerwaldes
- Umsturz der Werte: Das Nachkriegswien