Der Krieg wurde in Wien zunehmend „unübersehbar“. Bereits kurz nach Kriegsbeginn strömten Tausende, darunter viele jüdische Flüchtlinge in die Stadt. Sowohl die Stadtverwaltung wie die Regierung erwiesen sich letztlich als ungenügend auf diese Situation vorbereitet. Und auch unter der Wiener Bevölkerung machten sich bald Neid, Aggression und verstärkter Antisemitismus bemerkbar.

Schon im Winter 1914/15 strömten Tausende Flüchtlinge in die Hauptstadt, die sich auf der Flucht vor der russischen Offensive befanden. Reagiert wurde auf die Flüchtlingsströme bereits im September 1914 mit der Einrichtung einer „Zentralstelle der Fürsorge für die Kriegsflüchtlinge aus Galizien und der Bukowina“ in der Zirkusgasse 5 im 2. Bezirk; nach dem Kriegseintritt Italiens im Mai 1915 wurde sie in „Zentralstelle der Fürsorge für Kriegsflüchtlinge“ umbenannt.

Die meist völlig mittellosen Flüchtlinge erhielten kostenlose ärztliche Betreuung und Medizin, Kleiderspenden, Kostgeld und Wohnungszuschüsse, wenn nötig Unterkunft in einer Notschlafstelle. Die rasche Einrichtung einer städtischen Flüchtlingszentrale verdankte sich der Entschlossenheit Bürgermeister Weiskirchners, gleichzeitig versuchte dieser aber, diese Personen so rasch wie möglich wieder los zu werden. Im Dezember 1914 wurde der Neuzuzug für Flüchtlinge gesperrt. Wohnraum und Nahrungsmittel wurden knapp und immer knapper.

Die Arbeiter-Zeitung berichtete bereits im September 1914 von mehr als 70.000 Menschen aus Galizien und der Bukowina, die nach Wien geflüchtet waren (rund ein Fünftel davon Juden), ein Monat später war von 125.000 Flüchtlingen die Rede. Eine Veröffentlichung des Innenministeriums berichtete von 137.000 Flüchtlingen in Wien, über 77.000 davon Juden. Diese Zahlen bezogen sich nur auf registrierte und unbemittelte Flüchtlinge, die tatsächliche Zahl könnte dementsprechend höher gelegen sein. Am Höhepunkt der Flüchtlingswelle betrug die Zahl der Flüchtlinge annähernd 200.000 Personen, von denen 150.000 staatlich unterstützt wurden. Im Mai 1916 war von 37.000 staatlich unterstützten Flüchtlingen in Wien die Rede (20.000 Juden), eine neuerliche Flüchtlingswelle ließ die Zahl mittelloser jüdischer Flüchtlinge noch einmal bis Mai 1917 auf rund 40.000 ansteigen. Bereits seit 1915 vermochte die staatliche Unterstützung pro Person nur mehr ein Viertel der Lebenshaltungskosten zu decken. Sowohl die Bereitschaft zur Rückkehr als auch der Druck dazu waren groß, wie aus der sinkenden Zahl von Flüchtlingen in Wien hervorgeht. So lebten am 1. September 1918 20.081 Personen in staatlicher Unterstützung, über 17.000 davon Juden. Insgesamt belaufen sich die Schätzungen (inkl. Personen, die über Eigenmittel oder einen Erwerb verfügten) Ende 1918 auf 25.000 bis 39.000 in Wien verbliebene Flüchtlinge.

Die österreichischen Ministerien waren von der Flüchtlingswelle und der Aufgabe, Transport, Unterkunft und Verpflegung für zehntausende Menschen zu organisieren, überfordert. Teile der Bevölkerung zeigten anfangs durchaus Hilfsbereitschaft und Solidarität, bald überwogen aber, verstärkt durch die eigene Versorgungsmisere Ablehnung und Vorurteile, vor allem gegenüber ostjüdischen Flüchtlingen. Schon im Herbst 1914 beklagten private Flüchtlingsorganisationen eine flüchtlingsfeindliche Stimmung, insbesondere in Wien, wo Flüchtlinge als „freche Eindringlinge“ „feindlicher Gesinnung“ wahrgenommen würden.

Gerade die jüdischen Flüchtlinge – unter denen viele gehofft hatten, in ein „irdisches Jerusalem“ zu gelangen – sahen sich mit heftigen Abwehrreaktionen der Bevölkerung konfrontiert, der Antisemitismus nahm zu. Die Fremdenfeindlichkeit verschärfte sich mit Fortdauer des Krieges, der ungünstigen Kriegslage (dem militärischen Debakel der Monarchie im Nordosten) und der zunehmend angespannten Versorgungslage. Flüchtlinge mussten immer mehr als Sündenböcke herhalten, sie wurden für den Ausbruch von Seuchen oder die angespannte Situation am Wohnungsmarkt verantwortlich gemacht, auch der Vorwurf, sich auf Kosten der heimischen Bevölkerung, etwa durch Preistreiberei, zu bereichern, gehörte zum Standardrepertoire antisemitischer Rhetorik. Verstärkt wurde diese Stimmung durch die Propaganda der christlichsozialen Partei und deutschnationaler Gruppierungen. Wie es den meisten Kriegsflüchtlingen tatsächlich ging, in welchem Elend sie lebten, in katastrophalen Wohnverhältnissen, hungernd, krank, zeigen die von der Zentralstelle für Kriegsflüchtlinge während des Krieges kontinuierlich angestellten Recherchen.

Für die Betreuung der Flüchtlinge waren grundsätzlich private Fürsorgeeinrichtungen zuständig, diese hatten sich meist aber nur auf eine Nationalität oder auf eine bestimmte soziale Schicht spezialisiert, z. B. das Wiener Hilfskomitee für Flüchtlinge aus Galizien und der Bukowina, welches sich ausschließlich sozial höhergestellten Personen annahm. Ausnahme war die dem Innenministerium unterstellte und für Wien zuständige Zentralstelle der Fürsorge für Kriegsflüchtlinge, welche die Auszahlung der Flüchtlingsunterstützung, die Unterbringung in und Bereitstellung von Mädchenheimen, Kinderhorten, Kinderheimen, den Bahnhofsdienst, Kleiderverteilung u. a. organisierte. Die gesamten Ausgaben der Zentralstelle (nur für Wien) beliefen sich bis Juli 1918 auf 94,5 Mio. K, die staatlichen Gesamtaufwendungen waren aber um ein Vielfaches größer.

Ein großes Problem bestand für Flüchtlinge darin, eine Arbeitsbewilligung zu erhalten. Als im Winter 1914 die flüchtlingsfeindliche Stimmung unter der Bevölkerung ein bedrohliches Ausmaß erreicht hatte, wurde ein Maßnahmenpaket erarbeitet, das zwei Ziele verfolgte: Flüchtlinge sollten vermehrt zur Arbeitsverwendung herangezogen werden, zum anderen sollten sie durch eine kulturelle (Schulunterricht, Analphabetenkurse, Stickereikurse) und eine religiöse Betreuung beschäftigt werden. Jüdischen Flüchtlingen wurden Arbeitsbücher und Arbeitserlaubnis jedoch verweigert, um jegliche „Sesshaftwerdung“ von vornherein auszuschließen und ihre sofortige Repatriierung in die Wege leiten zu können. Sie fanden in Wien fast nur in der Heimarbeit Beschäftigung.

Bibliografie 

Hoffmann-Holter, Beatrix: „Abreisendmachung“. Jüdische Kriegsflüchtlinge in Wien 1914-1923, Wien/Köln/Weimar 1995

Hoffmann-Holter, Beatrix: Jüdische Kriegsflüchtlinge in Wien, in: Heiss, Gernot/Rathkolb, Oliver (Hrsg.): Asylland wider Willen. Flüchtlinge in Österreich im europäischen Kontext seit 1914, Wien 1995, 45-59

Kohlbauer-Fritz, Gabriele: „Elend, überall wohin man schaut“. Kriegsflüchtlinge in Wien, in: Pfoser, Alfred/Weigl, Andreas (Hrsg.): Im Epizentrum des Zusammenbruchs. Wien im Ersten Weltkrieg, Wien 2013, 96-103

Mentzel, Walter: Weltkriegsflüchtlinge in Cisleithanien 1914-1918, in: Heiss, Gernot/Rathkolb, Oliver (Hrsg.): Asylland wider Willen. Flüchtlinge in Österreich im europäischen Kontext seit 1914, Wien 1995, 17-44

Zitate:

Flüchtlinge als „freche Eindringlinge“: Verhalten der Bevölkerung gegenüber der galizischen Bevölkerung, 20. 6. 1915, AVA, MdI, Präs., Sign. 19/3, Zl. 13241, zitiert nach: Mentzel, Walter: Weltkriegsflüchtlinge in Cisleithanien 1914-1918, in: Heiss, Gernot/Rathkolb, Oliver (Hrsg.): Asylland wider Willen. Flüchtlinge in Österreich im europäischen Kontext seit 1914, Wien 1995, 23

Inhalte mit Bezug zu diesem Kapitel

Aspekt

Personen, Objekte & Ereignisse

  • Objekt

    Flucht und Deportation

    Millionen von Menschen flohen während des Krieges vor den Kampfhandlungen und den marodierenden Soldaten. Besonders dramatisch erwies sich die Situation in den ethnisch heterogen zusammengesetzten Gebieten der Ostfront. Neben den Invasoren gingen hier auch die Soldaten des Ansässigkeitsstaates gegen die Bevölkerungsminderheiten vor. Darüber hinaus wurden hunderttausende Zivilisten aus den Front- und Etappenbereichen ins Hinterland zwangsdeportiert: Zum einen, weil da man sie als unzuverlässige „innere Feinde“ betrachtete, zu anderen um sie als Zwangsarbeiter auszubeuten.

  • Objekt

    Mangel und Elend

    Als im Jänner 1915 die Bevölkerung auf ausbleibende Brot- und Mehllieferungen mit Panikkäufen reagierte, führte die Kriegs-Getreide-Verkehrsanstalt das Bezugskartensystem ein. Pro-Kopf-Quoten wurden festgesetzt und über Brot- und Mehlkarten verteilt. Doch selbst die zugewiesenen Rationen konnten angesichts der Krise immer seltener ausgegeben werden und die Papierscheine erwiesen sich als wertlos.

Entwicklungen

  • Entwicklung

    Alltag an der (Heimat) Front

    Wie gestaltete sich der Alltag in der Heimat und an den Fronten während der Jahre 1914 bis 1918? Lässt sich der Alltag einer bürgerlichen Frau mit jenem einer Arbeiterin vergleichen? Machte ein Offizier dieselben Fronterfahrungen wie ein Mannschaftssoldat? Oder müssen wir nicht eher davon ausgehen, dass wir es mit einer immensen Fülle an Einzelerlebnissen und -erfahrungen zu tun haben, die den Kriegsalltag der Bevölkerung und der Soldaten an den Fronten prägten?

  • Entwicklung

    Antisemitismus

    Um die Jahrhundertwende vom 19. zum 20. Jahrhundert wurde der Antisemitismus zur politischen Bewegung, die den Judenhass zum ideologischen Programm und zur Richtschnur für politische Aktionen erhob. Dahinter verbarg sich eine Ideologie, die Juden und Jüdinnen als „die Anderen“ stigmatisierte und als eine die Gesellschaft bedrohende Gefahr inszenierte. Während des Ersten Weltkrieges führte der „innere Burgfrieden“ zunächst zu einem Abflauen der antisemitischen Hetze, doch der ungünstige Kriegsverlauf förderte die antisemitische Ausschlusspolitik.