Umsturz der Werte: Das Nachkriegswien

Die alte Welt geriet immer mehr aus den Fugen. Der Zusammenbruch der Habsburgermonarchie und die Ausrufung der Republik stellten zwar eine eindeutige Zäsur dar, Kriegszeit und Nachkriegszeit zeigten aber auffällige Parallelen. Für die Wiener Bevölkerung war noch lange keine Erleichterung bzw. Verbesserung der Lebensumstände zu bemerken. Hinzugekommen war je nach Weltanschauung die Furcht vor bzw. die Hoffnung auf Revolution und Rätediktatur. Von Ende Oktober 1918 bis Juni 1919 war Wien Schauplatz blutiger Demonstrationen und Zusammenstöße.

Wien war in seinen wirtschaftlichen, sozialen, kulturellen und politischen Grundlagen nachhaltig erschüttert worden. Zorn und Verbitterung zeigten sich auf vielfache Weise, Wien geriet in den Sog der Revolution: Die Zeitungen berichteten, dass ein wütender Mob den Doppeladler der Hoflieferanten auf der Kärntnerstraße von den Wänden riss. Selbst in Wienerliedern fand diese Stimmung Einzug: „Was wird mit die nobligen Herren? Die nobligen Herren, Mit die goldenen Stern, die wern jetzt die Straßen aufkehrn!“ Die erstarkte Arbeiterbewegung hatte mit Streiks, dem größten im Jänner 1918, und Demonstrationen zur Republikgründung am 12. November beigetragen. Radikalere Gruppen wie die Rote Garde und Teile der Rätebewegung wollten sich damit nicht zufriedengeben, forderten eine sozialistische Republik, doch die sozialdemokratische Parteiführung war strikt gegen eine revolutionäre Machtübernahme. Vielleicht auch, weil sie ihren Wahlerfolg voraussah. Das christlichsoziale Wien wurde „rot“, bei den Gemeinderatswahlen im Mai 1919 gewannen die Sozialdemokraten 100 von 165 Mandaten. Wien war die einzige Großstadt mit sozialdemokratischer Verwaltung. Generell gingen Arbeiterschaft und Arbeiterbewegung aus dem Ersten Weltkrieg politisch wesentlich stärker hervor, als sie in diesen eingetreten waren.

Wandel zeigte sich auf vielen Ebenen, in der Durchsetzung des allgemeinen Wahlrechts (auch für Frauen) wie in der sozialpolitischen Offensive der Jahre 1918 bis 1920. Der Wandel, der sich mit dem Eindringen von Frauen in angestammte Männerberufe während des Krieges abgezeichnet hatte, war hingegen nur von kurzer Dauer, vielfach nur eine temporäre Emanzipation. Die Frauenbeschäftigung wurde nach 1918 wieder deutlich reduziert.

Der Krieg hatte in gewisser Weise als gesellschaftlicher Gleichmacher fungiert. Von der Verarmung und Inflation besonders betroffen waren Beamte und Angestellte, deren Gehaltserhöhungen mit der allgemeinen Teuerung nicht Schritt halten konnten. Viele kleine Geschäftsinhaber mussten ihre Läden zusperren, Hausbesitzer hatten durch den Mieterschutz Einkommenseinbußen zu verzeichnen. Untersuchungen über die Einkommensverschiebungen in Österreich während des Ersten Weltkriegs sprechen übereinstimmend von einem „Niedergang des Mittelstandes“. Der Kriegsalltag hatte zu einer Nivellierung von Arbeiterschaft und unterer Mittelschicht beigetragen, gleichzeitig aber soziale Bruchlinien zwischen diesen Bevölkerungsschichten akzentuiert, insbesondere die Angst des Mittelstandes vor einem Absinken ins Proletariat. Der Krieg kannte Gewinner und Verlierer, er machte arm und schuf neuen Reichtum. Verarmte Adelige und Industrielle, die vor dem Nichts standen und an gesellschaftlichem Status einbüßten, wie hohe Offiziere auf der einen Seite, Kriegsgewinner, Spekulanten und Glücksritter, die sich ihres neu gewonnenen Reichtums erfreuten auf der anderen Seite, prägten die letzten Stunden des untergehenden 50-Millionen-Reichs und die ersten Jahre des Kleinstaates.

Die österreichische Wirtschaft bot nach Kriegsende ein katastrophales Bild. Die Produktion war auf einen Bruchteil des Jahres 1913 gesunken. Die Versorgung mit Energie und Heizmaterial sowie Lebensmitteln blieb defizitär, auch weil sich der Außenhandel fast ausschließlich in unzureichenden Kompensationsgeschäften vollzog. Der Energiemangel wirkte sich wiederum negativ auf die Beschäftigungslage in der Industrie aus. Vielen Betrieben gelang die Umstellung von der Kriegs- auf die Zivilproduktion nicht, der Verlust von Absatzgebieten und die anfängliche Abschottungspolitik der Nachfolgestaaten trafen einige Branchen schwer. Gleichzeitig hatten die Rüstungsanstrengungen zu Fortschritten in einigen Industriebranchen geführt, wie etwa in der Elektro-, Werkzeug oder Fahrzeugindustrie. Die österreichische Landwirtschaft konnte den Nahrungsmittelbedarf bei Weitem nicht decken. Erst ab 1920 konnten Rationierungsmaßnahmen allmählich aufgehoben werden. Die Inflation vernichtete viele Vermögen und erschwerte die unternehmerische Tätigkeit. So verwundert es nicht, dass Zweifel an der wirtschaftlichen Lebensfähigkeit des neuen Staates immer lauter wurden. Mit Ende des Krieges, gleichzeitig dem Ende der Monarchie, war die frühere Reichshaupt- und Residenzstadt der Habsburger zur Hauptstadt eines Kleinstaates mutiert, zum „Wasserkopf“, worin sich die Überausstattung bestimmter Funktionen (z. B. einem überdimensionierten Beamten- und Verwaltungsapparat) ebenso spiegelte wie die übergroße Bevölkerungszahl Wiens und die ungünstige Randlage. Eine Los-von-Wien-Stimmung machte sich in nahezu allen österreichischen Bundesländern bemerkbar. So weigerten sich die Bundesländer etwa, von ihren Vorräten abzugeben.

Für das Alltagsleben der Bevölkerung brachte der Übergang vom Kaiserreich zur Republik wenig bis keine Veränderungen. In Wien unterschritten die zugewiesenen Lebensmittelrationen das Lebensnotwendige. Theater und Kinos wurden gesperrt, Züge verkehrten unregelmäßig, die Straßenbahn schränkte ihren Betrieb ein. Fabriken mussten ihre Produktion immer wieder unterbrechen, weil die E-Werke wegen Kohlenmangels keinen Strom liefern konnten. Der Kältewinter 1918/19 erschwerte den Überlebenskampf, die Spanische Grippe forderte Tausende Opfer. Der Gesundheitszustand insbesondere der Wiener Kinder war katastrophal.

Der Krieg wirkte als Trauma lange nach. Hunger und Unterernährung, extremer Mangel, Kälte, Krankheiten und Epidemien wie die Spanische Grippe oder die Tuberkulose, Kriegstote bzw. -invalide in vielen Familien und zerrissene Beziehungen, all das waren prägende und bleibende Eindrücke der Kriegszeit.

Bibliografie 

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Kretschmer, Helmut: Ende und Anfang – Wien um 1918, Wiener Geschichtsblätter, Beiheft 3/1993

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Stekl, Hannes: „Die Verelendung der Mittelklassen nimmt ungeahnte Dimensionen an…“, in: Pfoser, Alfred/Weigl, Andreas (Hrsg.): Im Epizentrum des Zusammenbruchs. Wien im Ersten Weltkrieg, Wien 2013, 88-95

Tálos, Emmerich: Sozialpolitik in der Ersten Republik, in: Handbuch des politischen Systems. Erste Republik 1918-1933, Wien 1995, 570-586

Zitate:

„Was wird mit die nobligen Herren …“: Wienerlied, zitiert nach: Stadtchronik Wien. 2000 Jahre in Daten, Dokumenten und Bildern, Wien/München 1986, 402

Inhalte mit Bezug zu diesem Kapitel

Aspekt

  • Aspekt

    Nach dem Krieg

    Mit dem Ersten Weltkrieg ging das „lange 19. Jahrhundert“ zu Ende. An die Stelle der monarchischen Imperien traten neue politische Player. Die k. u. k. Monarchie zerfiel in einzelne Nationalstaaten. Im November 1918 wurde die Republik Deutschösterreich proklamiert, im Oktober 1920 Österreich als Bundesstaat errichtet. Die Jahre nach dem Krieg waren überaus bewegt: Sie changierten in einem Spannungsverhältnis von Aufbruch und Niederlage, zwischen politischen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Errungenschaften und Rückschlägen.

Personen, Objekte & Ereignisse

  • Objekt

    Revolutionäre Bewegungen, Streikbewegungen

    Die Umstellung der Produktionsstätten auf Kriegswirtschaft und der Einsatz der Männer an der Front bedingte, dass zunehmend Frauen in zuvor typischen Männerberufen, wie beispielsweise in Betrieben der Rüstungsindustrie, beschäftigt wurden. Frauen mussten auch die Versorgung ihrer Familien übernehmen und reagierten daher auch als Erste mit Protestaktionen auf die zunehmend prekäre Ernährungslage und auf extrem schlechte Arbeitsbedingungen in den Betrieben.

  • Objekt

    Mangel und Elend

    Als im Jänner 1915 die Bevölkerung auf ausbleibende Brot- und Mehllieferungen mit Panikkäufen reagierte, führte die Kriegs-Getreide-Verkehrsanstalt das Bezugskartensystem ein. Pro-Kopf-Quoten wurden festgesetzt und über Brot- und Mehlkarten verteilt. Doch selbst die zugewiesenen Rationen konnten angesichts der Krise immer seltener ausgegeben werden und die Papierscheine erwiesen sich als wertlos.

Entwicklungen

  • Entwicklung

    Geschlechterrollen: (k)ein Wandel?

    Dass der Erste Weltkrieg traditionelle Geschlechterrollen von Frauen und Männern ins Wanken brachte, ist eine weitverbreitete Ansicht. Fotografien von Straßenbahnschaffnerinnen, Fuhrwerkerinnen und Briefträgerinnen zeugen dem Anschein nach ebenso davon wie die durch den Krieg erzwungene und notwendige Übernahme der männlich gedachten Rolle des Ernährers und Versorgers durch die daheim gebliebenen Frauen. Aber gab es diesen Wandel tatsächlich und was blieb nach 1918 davon übrig?