Antiliberalismus – Antikapitalismus – Antisemitismus

Der Börsenkrach 1873 und ein Antisemitismus neuer Prägung

Der Börsenkrach von 1873 und die darauf folgenden sozialen Spannungen beendeten schlagartig die Hoffnungen der jüdischen Bevölkerung, durch Modernisierungs- und Assimilierungsbestrebungen die vollständige gesellschaftliche Gleichberechtigung zu erfahren.

Die „Große Depression“ infolge des Börsenkrachs 1873 führte neben Armut und wirtschaftlicher Stagnation zu einem beschleunigten wirtschaftlichen Strukturwandel. Angetrieben von den Rationalisierungsmaßnahmen in der Produktion machten Handel, Handwerk und Kleingewerbe einen allmählichen Modernisierungsschub durch. Die rasche Industrialisierung diversifizierte die Arbeiterschaft in Facharbeiter, Industriearbeiter und neue Privatangestellte.

Handwerker und Gewerbetreibende fühlten sich von diesen schlagartigen Veränderungen bedroht und soziale Spannungen zwischen den einzelnen Gruppen verschärften sich. Im konservativen Lager wurde das bislang optimistische Vertrauen in die kapitalistische Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung jäh zerschlagen. Stattdessen manifestierte sich eine verschärft antikapitalistische Haltung, die demokratische Ansätze in der Gesellschaft in den Hintergrund treten ließ.

Die ökonomischen Spannungen bildeten die Grundlage für einen neuen Antisemitismus, der in der „Judenfrage“ die Ursache für die wirtschaftliche Krise sah und judenfeindliche Verschwörungstheorien aufkeimen ließ. Soziale Missstände wurden auf die scheinbar leicht zu identifizierbare Gruppe der Juden und Jüdinnen gelenkt. In der dichotomen Gegenüberstellung von Juden und ‚christlichem Volk‘ wurde der Börsenkrach als ‚jüdischer Verrat‘ interpretiert. Traditionell mit dem Geld- und Finanzwesen assoziiert, wurde ‚der Jude‘ als Schuldiger ausgemacht. Antisemiten hielten die kapitalistische Produktionsweise für eine jüdische Weltverschwörung, die nur mit einer antijüdischen Gesetzgebung bekämpft werden könne. Begleitet wurde dieser gesellschaftliche Wandel von antijüdischen Publikationen in der konservativen und katholischen Presse und gab ihm zusätzlichen Auftrieb.

Konservativ eingestellte Kreise vor allem innerhalb des kleinen und mittleren Bürgertums waren die Trägerschicht dieses neuen Typus des Antisemitismus. Für sie war der Antisemitismus ein kultureller Code und Ausdruck einer Weltanschauung, die ein ganzes Bündel an konservativen Werten umfasste: sie waren gegen Liberalismus, Kapitalismus und Sozialismus, kämpften gegen die Freiheitsrechte der jüdischen Bevölkerung, waren kirchenverbunden und vertraten eine dynastische Orientierung und ständisch-korporative Idealvorstellungen. Als Reaktion auf die sozio-ökonomischen Veränderungen wurden kapitalistische Bedrohungsgefühle mit antijüdischer Agitation verknüpft und Juden und Jüdinnen zur Zielscheibe einer antiliberalen Politik.

 

Bibliografie 

Bunzl, John/Marin, Bernd: Antisemitismus in Österreich. Sozialhistorische und soziologische Studien, Innsbruck 1983

Kienzl, Lisa: Das goldene Zeitalter der Sicherheit. Nationale österreichische Identitätskonstruktionen und deren Beziehung zum wachsenden Antisemitismus im deutschsprachigen Raum der Donaumonarchie 1866-1914, unveröffentlichte Dissertation, Graz 2012

Maderthaner, Wolfgang/Musner, Lutz: Die Anarchie der Vorstadt. Das andere Wien um 1900, Frankfurt/New York 1999

Pulzer, Peter: Spezifische Momente und Spielarten des Österreichischen und des Wiener Antisemitismus, in: Botz, Gerhard et al. (Hrsg.): Eine zerstörte Kultur. Jüdisches Leben und Antisemitismus in Wien seit dem 19. Jahrhundert, 129-146

Vocelka, Karl: Geschichte Österreichs. Kultur – Gesellschaft – Politik, München 2002

 

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Aspekt

Entwicklungen

  • Entwicklung

    Antisemitismus

    Um die Jahrhundertwende vom 19. zum 20. Jahrhundert wurde der Antisemitismus zur politischen Bewegung, die den Judenhass zum ideologischen Programm und zur Richtschnur für politische Aktionen erhob. Dahinter verbarg sich eine Ideologie, die Juden und Jüdinnen als „die Anderen“ stigmatisierte und als eine die Gesellschaft bedrohende Gefahr inszenierte. Während des Ersten Weltkrieges führte der „innere Burgfrieden“ zunächst zu einem Abflauen der antisemitischen Hetze, doch der ungünstige Kriegsverlauf förderte die antisemitische Ausschlusspolitik.