Der Bruch des inneren Burgfriedens

Der Antisemitismus kehrt auf die politische Bühne zurück

Die Auflösung der Donaumonarchie wurde von vielen habsburgischen Juden mit Sorge verfolgt. Sie begrüßten die Demokratie, fürchteten jedoch ein Ansteigen des Antisemitismus. Zu vertraut war ihnen mittlerweile die rasche Schuldzuweisung an ‚die Juden‘.


 

„Und wenn daher die Vorhersehung, die das Geschick der Staaten und Völker bestimmt, es nunmehr fügt, und, wie es scheint, unvermeidbar fügt, daß dieses alte, ehrwürdige Reich auseinanderfällt und sich in einzelne Sonderstaaten auflöst, da greift – wir bekennen es offen und aufrichtig – tiefes Weh an unser Herz ob der trüben und schmerzlichen Wandlung und Umwälzung der Dinge.“

 

Schreiber, Heinrich: Die Juden und der deutschösterreichische Staat, in: Dr. Bloch´s Wochenschrift (25. Oktober 1918) 42, 673

Die Juden und der deutschösterreichische Staat

Zunächst führte der Ausbruch des Ersten Weltkriegs zu einem „inneren Burgfrieden“ und einer Zurückdrängung des Antisemitismus. Doch der ungünstige Kriegsverlauf und die zunehmende Not in der Heimat förderten die antisemitische Ausschlusspolitik. Bereits 1917, nachdem die Zensurbestimmungen gelockert worden waren, mehrten sich verbale Angriffe in der Presse. Angesichts der schwindenden Hoffnung auf einen Sieg und der schlechten Versorgungslage nahm die antisemitische Stimmung zu und die jüdische Bevölkerung wurde als „Kriegsgewinnler“ für die Notlage verantwortlich gemacht.

Die grassierende Judenfeindschaft gegen Kriegsende resultierte jedoch nicht nur aus der miserablen Wirtschaftslage, sondern wurde auch durch die Hetzkampagnen der politischen Parteien geschürt. Nachdem im Sommer 1917 das österreichische Parlament wieder eröffnet worden war, kehrte der politische Antisemitismus auf die Tagesordnung zurück und wurde salonfähig. Die Christlichsoziale Partei, die Deutschnationalen und Großdeutschen forderten, den inneren Burgfrieden aufzukündigen und stellten antisemitische Forderungen in den Mittelpunkt ihrer Aktivitäten. Selbst die österreichische Sozialdemokratie, bislang die einzige Partei, die sich als Gegnerin des Antisemitismus positionierte, war darauf bedacht, nicht als Verteidigerin des jüdischen Kapitals, der liberalen Presse oder des orthodoxen Judentums zu gelten und vermischte antikapitalistische Positionen mit antisemitischen Vorwürfen. So wiesen SozialdemokratInnen auf die Verbindung von „vaterländischen Juden“, „jüdischem Kapital“ und „Bankenjuden“ hin und trugen durch diese Vermengung dazu bei, dass sich das Stereotyp des geldgierigen, prinzipienlosen und intriganten Juden festsetzten konnte.

Nach dem Zusammenbruch der Monarchie verschärfte sich der Antisemitismus in Österreich. Bereits im Sommer 1918 steigerten sich die judenfeindlichen Angriffe, getragen von der konservativen Presse, zu Massendemonstrationen und gewalttätigen Ausschreitungen. Kernthema der antisemitischen Hetze und Wahlkampfthema der ersten Nationalversammlung im Februar 1919 waren jüdische Flüchtlinge aus dem Osten der Monarchie. Antisemitische Gruppen bedienten sich der sogenannten Dolchstoßlegende, der zufolge nicht das Versagen der Armee zur militärischen Niederlage geführt habe, sondern Defätismus an der Heimatfront, geschürt von Juden und Sozialdemokraten.

Spannungen zwischen der jüdischen Bevölkerung und deren Umwelt wurden gefördert, indem alle unliebsamen Entwicklungen mit dem Feindbild des Juden verbunden wurden: Der Liberalismus mutierte zum „Judenliberalismus“, das Zeitungswesen zur „Judenpresse“ und die Erste Republik zur „Judenrepublik“. Die Dynamik von Gewalterfahrung, Krieg und Niederlage erhöhte die Bereitschaft der Bevölkerung, die „Judenfrage“ als Lösung gesellschaftlicher Probleme anzusehen.

Bibliografie 

Bergmann, Werner/Wyrwar, Ulrich: Antisemitismus in Zentraleuropa. Deutschland, Österreich und die Schweiz vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Darmstadt 2011

Bergmann, Werner: Geschichte des Antisemitismus, München 2002

Pauley, Bruce F.: Politischer Antisemitismus im Wien der Zwischenkriegszeit, in: Botz, Gerhard et al (Hrsg.): Eine zerstörte Kultur. Jüdisches Leben und Antisemitismus in Wien seit dem 19. Jahrhundert, 1990

Pulzer, John: Spezifische Momente und Spielarten des österreichischen und des Wiener Antisemitismus, in: Botz, Gerhard et al. (Hrsg.): Eine zerstörte Kultur. Jüdisches Leben und Antisemitismus in Wien seit dem 19. Jahrhundert, 1990

Rozenblit, Marsha L.: Segregation, Anpassung und Identität der Wiener Juden vor und nach dem Ersten Weltkrieg, in: Botz, Gerhard et al (Hrsg.): Eine zerstörte Kultur. Jüdisches Leben und Antisemitismus in Wien seit dem 19. Jahrhundert. 2., neu bearbeitete und erweiterte Auflage, Wien 2002

 

Inhalte mit Bezug zu diesem Kapitel

Aspekt

  • Aspekt

    Nach dem Krieg

    Mit dem Ersten Weltkrieg ging das „lange 19. Jahrhundert“ zu Ende. An die Stelle der monarchischen Imperien traten neue politische Player. Die k. u. k. Monarchie zerfiel in einzelne Nationalstaaten. Im November 1918 wurde die Republik Deutschösterreich proklamiert, im Oktober 1920 Österreich als Bundesstaat errichtet. Die Jahre nach dem Krieg waren überaus bewegt: Sie changierten in einem Spannungsverhältnis von Aufbruch und Niederlage, zwischen politischen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Errungenschaften und Rückschlägen.

Personen, Objekte & Ereignisse

Entwicklungen

  • Entwicklung

    Antisemitismus

    Um die Jahrhundertwende vom 19. zum 20. Jahrhundert wurde der Antisemitismus zur politischen Bewegung, die den Judenhass zum ideologischen Programm und zur Richtschnur für politische Aktionen erhob. Dahinter verbarg sich eine Ideologie, die Juden und Jüdinnen als „die Anderen“ stigmatisierte und als eine die Gesellschaft bedrohende Gefahr inszenierte. Während des Ersten Weltkrieges führte der „innere Burgfrieden“ zunächst zu einem Abflauen der antisemitischen Hetze, doch der ungünstige Kriegsverlauf förderte die antisemitische Ausschlusspolitik.